Finanzmärkte und Realwirtschaft Der irrationale Überschwang der Finanzmärkte

Jemand beobachtet einen steigenden Aktienkurs Quelle: dpa

Lässt sich aus steigenden Aktienkursen ableiten, dass der nächste Abschwung bevorsteht? Nein, sagt Krisen-Guru Nouriel Roubini. Er warnt vielmehr vor einer Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft.

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Im vergangenen Mai und August eskalierte der Handels- und Technologiekonflikt zwischen den USA und China, die Aktienmärkte brachen ein, die Anleiherenditen fielen auf historische Tiefststände. Doch das ist vorbei: Inzwischen herrscht an den Finanzmärkten einmal mehr überschwängliche Begeisterung. US- und sonstige Aktien streben neuen Höchstständen zu, und es ist sogar von einem potenziellen „Melt-up“ der Aktienbewertungen die Rede. Viele Akteure an den Finanzmärkten hoffen, dass dem jüngsten globalen Abschwung ein sich beschleunigendes Wachstum und eine verfestigte Inflation (die den Gewinnen und risikobehafteten Anlagewerten nutzt) im kommenden Jahr folgen werden.

Die plötzliche Wende von der Risikoscheu zur Risikobereitschaft spiegelt vier positive Entwicklungen wider. Erstens dürften die USA und China eine Teileinigung erreichen, die zumindest vorübergehend weitere Eskalationen ihres Handels- und Technologiekrieges verhindert. Zweitens hat es der britische Premierminister Boris Johnson geschafft, eine provisorische Einigung mit der EU über einen „weichen Brexit“ herbeizuführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Vereinigte Königreich die EU ohne Vereinbarung verlässt, ist deutlich gesunken.

Drittens üben die USA angesichts iranischer Provokationen im Mittleren Osten bisher Zurückhaltung; Präsident Donald Trump hat erkannt, dass gezielte punktuelle Angriffe auf das Land zu einem ausgewachsenen Krieg und einem starken Anstieg der Ölpreise führen könnten. Zudem sind die US Federal Reserve, die Europäische Zentralbank und andere wichtige Notenbanken dem geopolitischen Gegenwind durch Lockerung der Geldpolitik entgegengetreten. Da die Notenbanken einmal mehr als Retter aufgetreten sind, werden selbst unbedeutende „grüne Triebe“ – wie die Stabilisierung des US-Fertigungssektors und die Widerstandsfähigkeit des Wachstums im Dienstleistungsbereich und beim Konsum – als Vorboten einer neuerlichen globalen Expansion angesehen.

Leider aber liegt in der Weltwirtschaft Einiges im Argen. Aktuelle Daten aus China, Deutschland und Japan legen nahe, dass der Abschwung weiterhin anhält, auch wenn sich sein Tempo verlangsamt hat.

Zweitens könnten sich die USA und China zwar auf einen Waffenstillstand einigen; die Entkoppelung der beiden weltgrößten Volkswirtschaften dürfte sich jedoch nach den US-Wahlen im nächsten November wieder beschleunigen. Mittel- bis langfristig ist bestenfalls zu hoffen, dass sich der anbahnende Kalte Krieg nicht in einen heißen Krieg verwandelt.

Drittens hat China beim Volksaufstand in Hongkong zwar Zurückhaltung gezeigt. Eine militärische chinesische Reaktion könnte jedoch eine Handelsvereinbarung mit den USA vereiteln und die Finanzmärkte erschüttern. Und sie könnte Taiwan in Richtung jener Kräfte drängen, die eine Unabhängigkeit unterstützen – eine rote Linie für Peking.

Viertens mag ein „harter Brexit“ zwar vom Tisch sein, doch erlebt die Eurozone derzeit eine sich vertiefende Malaise, die nichts mit dem anstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs zu tun hat. Deutschland und andere Länder mit Haushaltsspielräumen widersetzen sich weiterhin Forderungen nach Konjunkturimpulsen. Entscheidender noch ist, dass die neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein wird, deutlich mehr geldpolitische Impulse zu setzen, da ein Drittel der Mitglieder im EZB-Rat bereits die jüngst vollzogene Lockerung der Geldpolitik kritisch sieht.

Hinzu kommen in Europa die Faktoren einer alternden Bevölkerung, einer sinkenden chinesischen Nachfrage und der hohen Kosten zur Erfüllung neuer Emissionsstandards. Und die wichtigsten europäischen Volkswirtschaften – nicht zuletzt Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien – erleben derzeit politische Auseinandersetzungen, die in wirtschaftliche Probleme münden könnten.

Fünftens wird das iranische Regime angesichts der lähmenden Sanktionen wohl keine andere Möglichkeit sehen, als die Gesamtregion weiter zu destabilisieren, um die Kosten für die USA in die Höhe zu treiben. Der Mittlere Osten steckt schon jetzt im Chaos: Im Irak und im Libanon – einem Land, das praktisch bankrott ist und dem eine Währungs-, Staatsschulden- und Bankenkrise droht – sind massive Proteste ausgebrochen. Im aktuellen politischen Vakuum dort könnte sich die vom Iran unterstützte Hisbollah durchaus entscheiden, Israel anzugreifen. Auch der Einmarsch der Türkei in Syrien hat viele neue Risiken aufgeworfen, zum Beispiel in Bezug auf die Öllieferungen aus dem irakischen Teil Kurdistans. Im jemenitischen Bürgerkrieg ist kein Ende in Sicht. Und Israel steht derzeit ohne Regierung da. Die Region ist ein Pulverfass; eine Explosion könnte einen Ölschock und eine neue Phase der Risikoscheu auslösen.

Sechstens geraten die Notenbanken derzeit an die Grenzen dessen, was sie zur Stützung der Konjunktur tun können. Die Fiskalpolitik unterliegt derweil weiterhin den von Politik und hohen Schulden ausgehenden Beschränkungen.

Siebtens verschlimmert sich vielerorts die populistische Gegenreaktion auf die Globalisierung, den Handel, die Migration und die technologische Entwicklung. In einem Abwärtswettlauf könnten weitere Länder darauf setzen, den Waren- und Kapitalverkehr und die Freizügigkeit von Arbeitskräften zu beschränken. Die jüngsten Massenproteste in Bolivien, Chile, Ecuador, Ägypten, Frankreich, Spanien, Hongkong, Indonesien, dem Irak, dem Iran und dem Libanon mögen eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen widerspiegeln. Doch in all diesen Ländern sind wirtschaftliche Schwierigkeiten zu verzeichnen.

Achtens könnten sich die USA unter Trump zur größten Quelle der Unsicherheit entwickeln. Trumps Außenhandelspolitik unter dem Motto „America First“ droht die internationale Ordnung, die die USA und ihre Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg schufen, zu zerstören. In den USA selbst wird das Amtsenthebungsverfahren zu noch mehr Stillstand und Konflikten zwischen den beiden Parteien führen.

Mittelfristige Trends könnten zu noch größeren wirtschaftlichen Schäden und einer noch stärkeren Destabilisierung führen: Die gesellschaftliche Überalterung in den hochentwickelten Volkswirtschaften und den Schwellenmärkten wird das potenzielle Wachstum unweigerlich verringern, und Migrationsbeschränkungen werden das Problem verschlimmern. Der Klimawandel verursacht schon jetzt hohe wirtschaftliche Kosten, da Extremwetterereignisse an Häufigkeit, Virulenz und Zerstörungskraft zunehmen. Und während die technologische Innovation den wirtschaftlichen Kuchen langfristig vergrößern mag, werden künstliche Intelligenz und Automatisierung zunächst zu einer Destabilisierung von Arbeitsmarkt, Unternehmen und kompletten Branchen führen – und das bereits jetzt hohe Maß an Ungleichheit verschärfen. Wenn irgendwann der nächste schwere Abschwung kommt, werden die hohen und weiter steigenden privaten und öffentlichen Schulden sich als untragbar erweisen und eine Welle ungeordneter Zahlungsausfälle und Konkurse auslösen.

Die Abkoppelung zwischen den Finanzmärkten und der Realwirtschaft nimmt zu. Die Anleger konzentrieren sich frohgemut auf die Abschwächung einiger kurzfristiger Extremrisiken und auf die Rückkehr der Notenbanken zu einer lockeren Geldpolitik. Doch die grundlegenden Risiken für die Weltwirtschaft bleiben bestehen. Aus mittelfristiger Sicht verschlimmern sie sich sogar.

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