Allerdings fällt es schwer, ein Übermaß an Sparangebot zu sehen, das keine sinnvollen Investitionsprojekte findet. Es mangelt weltweit an Infrastruktur und in Entwicklungsländern an festen Häusern. In vielen Ländern Europas herrscht Arbeitslosigkeit, der weltweite Kapitalstock könnte eine umweltbezogene Modernisierung gut gebrauchen. Das sind nur einige Beispiele. Offenbar kommt es nicht zu diesen Investitionen, weil die Rahmenbedingungen auf der Angebotsseite nicht stimmen. Wenn Investitionen bei negativen Zinsen nicht attraktiv sind, obwohl es Knappheit an Kapital gibt, müssen sich die Regierungen fragen, was sie falsch machen.
Hier kommt die Geldpolitik ins Spiel. Sie hat den Leitzins auf Null gesetzt und kauft jeden Monat für 60 Milliarden Euro (ab Januar 2018: 30 Milliarden Euro) Staatsanleihen auf. Wenn der Realzins trotz relativer Kapitalknappheit negativ wird und wenn die Staaten ohne Hemmungen direkt von der Zentralbank finanziert werden, gibt es einige Fehlanreize.
Erstens wird Sparen unattraktiv, da es plötzlich Geld kostet. Die Altersvorsorge wird dann nicht nur durch den negativen Ertrag, sondern durch die sinkende Basis gefährdet.
Andererseits könnte es sein, dass die niedrigen Zinsen die Menschen erst recht dazu bringen, zu sparen, um die Zinsverluste aufzuholen und sich im Alter einen angemessenen Lebensstandard finanzieren zu können. Das würde die Sparschwemme – so sie denn existierte – eher noch erhöhen.
So bewerten Ökonomen den Kurswechsel der EZB
"Heureka - es ist vollbracht. Wir haben lange darauf gewartet, heute ist es endlich soweit. Die EZB hat angekündigt, das Kaufprogramm ab Januar auf 30 Milliarden Euro pro Monat zu reduzieren. In der Krise war es vielleicht notwendig, aber im Aufschwung sehe ich keinen Grund mehr, so massiv in den Markt einzugreifen. Die EZB tut gut daran, von 'Intensiv' auf 'Normal' umzuschalten. Angesichts starken Wachstums und solider Frühindikatoren sowie gesundem Abstand zur Null-Inflation ist die Therapie des Zurücknehmens der hohen Dosierung mehr als angebracht. Denn wie in der Medizin auch, ist es eine Frage der Dosierung und der Dauer der Anwendung, ob es dem Patienten nützt oder schadet."
"Der richtige Beschluss zur richtigen Zeit: Die Konjunktur läuft rund, die Kernrate der Inflation hat die Talsohle durchschritten. Deshalb kann die EZB ihre Anleihenkäufe ab Januar halbieren. Da Preisauftrieb und Kreditwachstum weiterhin verhalten sind und bisher nur in homöopathischen Dosen zulegen, kann die EZB ihre Abkehr vom Krisenmodus langsam vollziehen. Der Beschluss, das neue Tempo der Anleihenkäufe für mindestens neun Monate beizubehalten, gibt der Wirtschaft und den Märkten weitgehende Sicherheit über den geldpolitischen Kurs bis September 2018."
"Wir begrüßen die Entscheidung der EZB, die Anleihenkäufe zu reduzieren. Allerdings kann dies nur ein erster Schritt sein. Ziel muss die schnellstmögliche Beendigung der Käufe sein. Nur so besteht die Chance auf ein normaleres Zinsgefüge. Nach wie vor ist das extrem niedrige Zinsniveau eines der größten Stabilitätsrisiken. Je länger aber die Kapitalmarktzinsen in einem Umfeld steigender wirtschaftlicher Dynamik künstlich niedrig gehalten werden, desto größer wird die Gefahr eines abrupten Zinsanstiegs. Dies würde gravierende Folgen für die Konjunktur und die Finanzmärkte haben."
"Ich erwarte, dass die EZB im zweiten Halbjahr 2018 ihre Anleihekäufe komplett einstellen und dann frühestens 2019 die erste Zinserhöhung tätigen wird. Die EZB kann die geldpolitischen Zügel nur langsam anziehen, da sie sich nur langsam ihrem Mandat der Preisstabilität annähert."
Zweitens haben Regierungen einen Anreiz, sich weiter zu verschulden. Zinskosten fallen kaum an, und die billigen Kredite können dazu benutzt werden, politisch attraktive – ökonomisch aber keineswegs sinnvolle – Projekte wie die Rente mit 63 zu finanzieren.
Dieser Anreiz wird drittens dadurch ergänzt, dass die Verbesserung der Angebotsbedingungen kaum stattfindet. Dadurch steigen die Investitionsanreize gerade nicht. So gibt es zwar weiterhin Investitionsbedarf, dieser wird aber nicht bedient.
Viertens wird im Niedrigzinsumfeld das Geschäft für traditionell operierende Banken, die sich durch Zinsgeschäfte finanzieren, immer schwerer. Es ist damit zu rechnen, dass in Kürze bislang erfolgreiche Sparkassen und Volksbanken in Deutschland erheblich unter Druck geraten und zum Teil ausscheiden werden. Ob die EZB sich daran stören würde, darf bezweifelt werden.
Das führt zu einem ernüchternden Fazit: Je länger die EZB eine lasche Geldpolitik mit Staatsfinanzierung zum Nulltarif betreibt, desto geringer sind die Chancen, dass sich die Investitionsschwäche in Europa vertreiben lässt und dass die Krise der Eurozone beendet werden kann. Im Gegenteil: Aus der Krise der Geld- und Kapitalmärkte würde dann wieder eine reale Krise werden, Bankensterben, Investitionsschwäche und Altersarmut inklusive. Angesichts der überall lauernden Populisten sind das keine guten Aussichten für Europa.
Die EZB hat gestern einen ersten – wenn auch sehr vorsichtigen – Schritt in die richtige Richtung gemacht. Manche Beobachter sehen darin bereits ein Einleiten der Zinswende. Soweit zu gehen, wäre voreilig. Die EZB sollte wesentlich deutlicher werden und endlich das Ankaufsprogramm stoppen sowie die Zinsen leicht anheben. Die gestrigen Ankündigungen sind nicht ausreichend!