Freytags-Frage
Klimawandel, Coronapandemie, Inflation und Geopolitik: Die Probleme für Deutschland häufen sich. Das Land steht vor einer Zeitwende – und die Akteure müssen dementsprechend handeln. Quelle: imago images

Sind wir noch in der Lage, unsere Probleme zu lösen?

Klimawandel, Coronapandemie, Inflation und Geopolitik: Die Probleme für Deutschland häufen sich. Das Land steht vor einer Zeitwende – und die Akteure müssen dementsprechend handeln.

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Die wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes häufen sich. Neben die Bewältigung der seit langem bekannten Probleme – zu nennen sind die technologische Rückständigkeit der öffentlichen Hand, der Klimawandel und dessen eher langsame Bewältigung hierzulande, der seit Jahrzehnten sicher prognostizierte demographische Wandel mit den bekannten Folgen für den Arbeitsmarkt sowie die immer noch nicht funktionierende Integration der Zugewanderten – sind weitere getreten. Da ist zunächst die Coronapandemie in den Blick zu nehmen. Neben den gesundheitlichen Risiken, die im Herbst vermutlich wieder steigen werden, tun sich Lücken in der Bildung auf. Die langen Schulausfälle und einsamen Stunden der Studierenden zollen ihren Tribut. Außerdem leidet die deutsche Wirtschaft unter den Lieferschwierigkeiten der Zulieferer, die sich aus Lockdown und dadurch bedingten Unterbrechungen der Lieferketten ergeben.

Verschärft wird diese Situation noch durch die in der Nachkriegszeit fast nicht gekannte Inflationsrate von über acht Prozent. Die Ursachen dafür sind sicherlich nicht einfach zu benennen, aber feststeht, dass die Europäische Zentralbank (EZB) keine gute Figur abgibt. Die großzügige Staatshaushaltsfinanzierung durch die EZB in Verbindung mit dem Wunsch, der italienischen und französischen Regierung Reformen zu ersparen, sind nicht vertrauenserweckend. Man hat den Eindruck, die Inflationsbekämpfung sei Sache der Bundesregierung, die dies am besten mit Preisbremsen tut. Die Geschichte lehrt jedoch, dass Inflation ein monetäres Phänomen ist, das nur mit solider Geldpolitik beendet werden kann. Es wirkt gerade nicht so, als ob die EZB dazu in der Lage ist.

Zu all dem kommen geopolitische Herausforderungen. Der systemische Wettbewerb des Westens mit China könnte zu einem erhöhten Abschreibungsbedarf deutscher Direktinvestitionen im Reich der Mitte und ausbleibenden Lieferungen von wichtigen Rohstoffen führen – das Stichwort lautet seltene Erden. Zudem drängen chinesische Unternehmen mit Macht in Drittmärkte und versuchen dort, ökonomische und politische Abhängigkeiten zu schaffen, die uns das Leben weiter erschweren können. Somit müssen die westlichen Werte auch beispielsweise in Afrika verteidigt werden – was wiederum erfordert, dass wir dort diplomatisch und wirtschaftlich erhebliche Anstrengungen weg vom althergebrachten Paternalismus hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis unternehmen müssen.

Die größte Herausforderung aber stellt gegenwärtig der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Zivilisation insgesamt dar. Er erfordert von uns höchste Aufmerksamkeit und größtmögliche Unterstützung der ukrainischen Verteidiger ihres Landes. Außerdem müssen wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit genauso stärken, wie wir die Versorgungssicherheit mit Energie nun sicherstellen müssen. Gas aus Russland wird es nicht mehr lange geben. Wind- und Solarenergie werden die Lücke nicht so bald füllen.

Diese Fülle von Schwierigkeiten kennen die meisten Deutschen nicht. In den vergangenen etwa 75 Jahren ging es im Grunde nur bergauf, von gelegentlichen Krisen abgesehen, die aber nie derart massiv gleichzeitig auftraten. Viele dieser Probleme sind hausgemacht – das ist auch nicht überraschend. Denn in den vergangenen 16 Jahren wurde politisch fast nichts unternommen, die Gesellschaft auf die Herausforderungen der Zukunft, die schon lange bekannt sind, vorzubereiten: „Wir schaffen das“ und „Sie kennen mich“ sind kein Ausdruck einer politischen Agenda. Aber es ist natürlich nie zu spät zu reagieren und das Steuer herumzuwerfen. Dabei sind sämtliche Akteure und Akteursgruppen nun in der Pflicht, sich konstruktiv mit den Lösungen all dieser Probleme zu befassen, also Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

Die Politik beginnt zu begreifen, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Die Bundesregierung spricht nicht nur von Zeitenwende, sie handelt – weitgehend – sogar danach. Die dabei nötige Geschwindigkeit muss von der öffentlichen Verwaltung erst einmal erlernt beziehungsweise erfasst werden. Aber es gibt gute Anzeichen. Selbst die Diskussion zum Berichtswesen (Compliance in jedweder Form) beginnt. Es wird zunehmend offenbar und auch den Befürwortern klar, dass die enormen Anforderungen an die Compliance der Unternehmen gerade im Mittelstand keineswegs sicher und gerade in eine bessere Welt führen.

Die Wirtschaft verhält sich sehr ruhig und wirkt recht besonnen. Natürlich stellt gerade der geopolitische Umschwung die Unternehmen vor große Schwierigkeiten. Sie müssen die Lieferketten umstellen, sich sowohl hinsichtlich der Bezugsquellen als auch der Absatzmärkte umstellen und diversifizieren. Dass dies nicht ohne Verwerfungen funktionieren kann, ist jedem klar. In Verbindung mit kluger Wirtschaftspolitik jedoch ist das zu schaffen.

Andere Akteure sind naturgemäß gespalten. Die Dramatik der Gesamtlage ist in der Öffentlichkeit noch nicht vollständig angekommen. Das macht sich daran fest, dass nach wie vor mit mehr Wucht über Identitätspolitik und oder Nachhaltigkeitsstrategien von Sportvereinen als über die Frage diskutiert wird, was zu tun ist, um den russischen Expansionsdrang zu kontrollieren, ohne in einen militärischen Konflikt zu geraten. Es ist aber auch beruhigend zu sehen, dass gleichzeitig intensive und sachbezogene Diskussionen, zum Beispiel über ein Dienstjahr für alle Schulabgänger, geführt wird. Der Trend ist positiv, Wichtiges wird wieder ernst genommen. Da können selbst Ausreißer nach unten wie die zweifelhaften Appelle einiger selbsternannter Intellektueller zum Frieden in der Ukraine, die eine symmetrische Kriegsschuld insinuieren, den Blick kaum trüben.

Bleibt die Wissenschaft. Man würde erwarten, dass große Forschungsprojekte zur Bewältigung der dramatischen Herausforderungen aus dem Boden sprießen und sich die Allokation von Forschungsgeldern nach den Dringlichkeiten richtet. Hochschulleitungen – so die Erwartung – bringen Arbeitsgruppen zusammen, die sich mit den Themen befassen. Diese Erwartung wird bisher nur ansatzweise erfüllt.

Statt die Themen aufzugreifen, verwenden die Mitglieder deutscher Universitäten viel Zeit darauf, anderen das Denken zu verbieten, wie das jüngst ein „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ an der Humboldt-Universität mit gütiger Unterstützung der Universitätsleitung geschafft hat. Anderswo werden Hunderte von Arbeitsstunden von Wissenschaftlern mit der Abfassung von Nachhaltigkeitsstrategien, die am Ende an nahezu allen Universitäten nahezu identisch klingen, verschwendet. Das Berichtswesen an den Universitäten treibt besonders farbige Blüten. Leider mit der Folge, dass Geld knapp wird und Wissenschaftler und Sachbearbeiter durch gut bezahlte und – im Sinne der Aufgaben der Universitäten – höchst unproduktive Beauftragte ersetzt werden.

Die gute Nachricht ist, dass es auf der Arbeitsebene natürlich zahlreiche Aktivitäten und Seminare zu aktuellen Themen gibt. Zudem gibt es viele Initiativen zur Unterstützung und Aufnahme ukrainischer Wissenschaftler an die Fakultäten in Deutschland. Auch das macht Hoffnung: Noch stehen die Universitäten nicht an der Spitze der Diskussion, aber in der langen Frist werden sich auch in diesem Bereich diejenigen durchsetzen, die an wirklich drängenden Problemen arbeiten.

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Das alles wirkt wie eine Beschreibung für eine Gesellschaft im Niedergang. Uns geht es einfach zu gut, um eine kriegerische Bedrohung wahrzunehmen; eher streiten wir uns darum, ob man einen weißen Mann eine Kartoffel nennen darf – meinetwegen gerne! Aber es gibt positive Signale. Viele Menschen sehen die wirklichen Probleme und ringen um Lösungen – und es werden immer mehr. Interessanterweise – und auch das ist nichts Neues – geht dabei vielfach die Initiative von denjenigen aus, von denen man es nicht erwartet hätte. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Herr Hofreiter zum Waffenexperten wird? Insofern besteht die begründete Hoffnung, dass wir die Herausforderungen der unmittelbaren und entfernteren Zukunft doch noch bewältigen können. Wir dürfen nur nicht nachlassen – ganz im Gegenteil.

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