Gary Becker Der ökonomische Imperialist

Gary Becker nutzt das mikroökonomische Instrumentarium, um Diskriminierung, Drogensucht und Kriminalität zu erklären. Das hat dem US-Ökonomen den Nobelpreis eingebracht – und viele Gegner.

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Gary Becker Quelle: Corbis

Was soll man von jemandem halten, der den Wert eines Kindes in eine komplizierte mathematische Formel gießt? Der aus vollem Herzen die Todesstrafe befürwortet und die Ehe als Ergebnis einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung begreift? Im Oktober 1992 ist die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften gespalten wie selten; der Mikroökonom Gary Becker soll den Ökonomienobelpreis bekommen, aber es gibt intern große Widerstände gegen den Amerikaner. Als man sich zur Preisvergabe an Becker durchringt – „für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit“ – drohen schwedische Feministinnen mit Protestaktionen. Weltweit grämen sich linke Leitartikler.

Gary Stanley Becker liegt derweil mit einer schweren Grippe im Bett. Als gegen 5.30 Uhr morgens das Telefon klingelt, will seine erzürnte Frau den Anrufer aus Schweden zunächst abwimmeln; erst als sie hört, wer am anderen Ende der Leitung ist, rüttelt sie ihren fiebrigen Mann wach. Becker ist hocherfreut, aber dank des ihm eigenen Selbstbewusstseins nicht wirklich überrascht. „Ich wollte den Nobelpreis bekommen, nicht nur der Ehre und des Geldes wegen, sondern auch, weil das meinen theoretischen Ansatz bestätigen würde“, wird er später sagen.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Und es stimmt ja: Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität.

Indem er den ökonomischen Ansatz methodisch verabsolutiert, treibt Becker die neoklassische Theorie auf die Spitze. Ungeachtet aller Vorwürfe, er betreibe „ökonomischen Imperialismus“, wendet Becker das mikroökonomische Instrumentarium auf menschliche Verhaltensmuster an, die sich nach gängigem Verständnis einer streng ökonomischen Sehweise entziehen. Beckers Erkenntnisse fügen sich zu einer Handlungstheorie zusammen, bei der die Individuen ihre Kosten-Nutzen-Entscheidungen gleichermaßen von materiellen wie immateriellen Faktoren abhängig machen – von persönlichen Vorlieben und moralischen Werten, Vorurteilen und niederen Gefühlen wie Neid, Geiz oder Hass. Eine besondere Rolle spielt zudem der Zeitaufwand von Handlungsalternativen, von Becker in einer eigenen „Zeitallokationstheorie“ wissenschaftlich seziert. All dies fügt sich laut Becker in den Köpfen zu sogenannten „Schattenpreisen“ zusammen, die beim Individuum eine vergleichbare Lenkungswirkung haben wie Marktpreise auf Güterangebot und -nachfrage. Jede Handlungsalternative ist auf diese Weise mit subjektiven Opportunitätskosten verbunden, die einen „Gewinn“ neutralisieren können.

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