
Was soll man von jemandem halten, der den Wert eines Kindes in eine komplizierte mathematische Formel gießt? Der aus vollem Herzen die Todesstrafe befürwortet und die Ehe als Ergebnis einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung begreift? Im Oktober 1992 ist die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften gespalten wie selten; der Mikroökonom Gary Becker soll den Ökonomienobelpreis bekommen, aber es gibt intern große Widerstände gegen den Amerikaner. Als man sich zur Preisvergabe an Becker durchringt – „für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit“ – drohen schwedische Feministinnen mit Protestaktionen. Weltweit grämen sich linke Leitartikler.
Gary Stanley Becker liegt derweil mit einer schweren Grippe im Bett. Als gegen 5.30 Uhr morgens das Telefon klingelt, will seine erzürnte Frau den Anrufer aus Schweden zunächst abwimmeln; erst als sie hört, wer am anderen Ende der Leitung ist, rüttelt sie ihren fiebrigen Mann wach. Becker ist hocherfreut, aber dank des ihm eigenen Selbstbewusstseins nicht wirklich überrascht. „Ich wollte den Nobelpreis bekommen, nicht nur der Ehre und des Geldes wegen, sondern auch, weil das meinen theoretischen Ansatz bestätigen würde“, wird er später sagen.





Und es stimmt ja: Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität.
Indem er den ökonomischen Ansatz methodisch verabsolutiert, treibt Becker die neoklassische Theorie auf die Spitze. Ungeachtet aller Vorwürfe, er betreibe „ökonomischen Imperialismus“, wendet Becker das mikroökonomische Instrumentarium auf menschliche Verhaltensmuster an, die sich nach gängigem Verständnis einer streng ökonomischen Sehweise entziehen. Beckers Erkenntnisse fügen sich zu einer Handlungstheorie zusammen, bei der die Individuen ihre Kosten-Nutzen-Entscheidungen gleichermaßen von materiellen wie immateriellen Faktoren abhängig machen – von persönlichen Vorlieben und moralischen Werten, Vorurteilen und niederen Gefühlen wie Neid, Geiz oder Hass. Eine besondere Rolle spielt zudem der Zeitaufwand von Handlungsalternativen, von Becker in einer eigenen „Zeitallokationstheorie“ wissenschaftlich seziert. All dies fügt sich laut Becker in den Köpfen zu sogenannten „Schattenpreisen“ zusammen, die beim Individuum eine vergleichbare Lenkungswirkung haben wie Marktpreise auf Güterangebot und -nachfrage. Jede Handlungsalternative ist auf diese Weise mit subjektiven Opportunitätskosten verbunden, die einen „Gewinn“ neutralisieren können.