
Große Ideen brauchen manchmal nur wenig Platz. John Forbes Nash genügte 1950 eine einzige Seite im renommierten US-Journal "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS), um die Spieltheorie und damit die gesamte Wirtschafts- und Sozialwissenschaft zu revolutionieren. Mit wenigen Worten definierte er in seinem Aufsatz ein Lösungskonzept für das, was Wissenschaftler "strategische Interaktionen" nennen. In diesen Entscheidungssituationen treffen Individuen ihre Entschlüsse nach bestimmten Regeln, die das Endergebnis für jeden einzelnen Mitspieler beeinflussen. Mithilfe der Spieltheorie und Nashs Ideen lassen sich derartige Entscheidungsraster mit mathematischer Präzision durchleuchten.
Soll eine Bäckerei die Preise senken, nachdem die Konkurrenz am Ort das Gleiche getan hat? Soll ein Unternehmen eine Fusion anstreben oder nicht? Solle man in der Rushhour die überfüllte Stadtautobahn oder eine Umgehungsstraße nehmen? Welche Preise können bei der Auktion von Mobilfunkfrequenzen aufgerufen werden? Und schießt man beim Elfmeterschießen eher in eine Ecke oder in die Mitte? All diese Entscheidungen können mit ein paar Anpassungen in die Form eines Spiels gebracht werden. Und über dessen Ausgang liefert Nashs Gleichgewicht eine Vorhersage.
Durchbruch schon mit 21
Das grundlegende Prinzip ist einfach erklärt. Angenommen, Peter und Paul befinden sich in einer Konfliktsituation. Zwischen ihnen hat sich genau dann ein Nash-Gleichgewicht eingestellt, wenn keiner der beiden seine Lage verbessern kann, indem er alleine von seiner aktuellen Strategie abweicht. Legten sowohl Peter als auch Paul ihre Strategien offen und nähmen die Entscheidung des anderen als gegeben hin, würde trotzdem keiner der beiden sein Verhalten ändern. "Das Nash-Gleichgewicht ist ein stabiler Zustand, der sich nicht aus sich selbst heraus zerstört", sagt Christian Rieck, Autor eines Spieltheorie-Lehrbuchs und Professor an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Der Vorteil: Es sind keine regulierenden Eingriffe von außen nötig, um diese Stabilität zu gewährleisten.





Mit nur 21 Jahren legte Nash damit den Grundstein für die Analyse menschlicher Interaktionen. "Die Auswirkungen des Nash-Gleichgewichts auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft ist vergleichbar mit der Entdeckung der DNA-Doppelhelix auf die Biologie", schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Roger Myerson in einer Würdigung von Nashs Werk. Dank Nash wurde die Spieltheorie zu einer zentralen Analysemethode, nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft. "Sie erlaubt es, alle sozialen, ökonomischen und auch biologischen Interaktionen in eine klare Form zu bringen", sagt Axel Ockenfels, Professor an der Universität Köln.
"In der Realität gibt es keine Nullsummenspiele"
Vor Nash war die Spieltheorie noch nicht universell einsetzbar. Sie befasste sich in ihren Anfängen, maßgeblich geprägt durch John von Neumann und Oskar Morgenstern, nur mit sogenannten Nullsummenspielen. Das heißt, was eine Partei gewinnt, verliert die andere. "In der Realität gibt es aber kaum Nullsummenspiele. Es geht immer um Konflikt und Kooperation", sagt Ockenfels. Das Element der Kooperation brachte Nash zum ersten Mal ein. "Damit hat Nash die Tür aufgemacht zu diesem riesigen Universum von Spielen", so Ockenfels.
Das Gefangenen-Dilemma

Experimentelle Ökonomen wie Ockenfels führen diese Spiele nun unter Laborbedingungen durch. Sie lassen Probanden gegen- und miteinander Entscheidungen treffen und beobachten deren Verhalten. Daraus lassen sich Empfehlungen für die Realität ableiten. Zum Beispiel für das Online-Auktionshaus Ebay, dass dank ökonomischer Experimente sein Regelwerk angepasst hat. So schließt sich der Kreis von der Realität über die Spieltheorie ins Labor und zurück in die reale Welt.
Eines der einflussreichsten wissenschaftlichen Spielszenarien, die durch das Nash-Gleichgewicht entstanden sind, ist das sogenannte Gefangenendilemma. Eigentlich von Nashs Kollegen bei der US-Denkfabrik Rand Corporation erdacht, um die Grenzen seiner Idee aufzuzeigen, wird es noch heute in Spieltheorie-Vorlesungen verwendet, um das Nash-Gleichgewicht zu erklären. Die Ausgangssituation ist wie folgt: Zwei Tatverdächtige A und B werden von der Polizei verhaftet und getrennt verhört. Sie haben die Möglichkeit, den anderen zu verpfeifen oder die Aussage zu verweigern. Schweigen beide, reicht die Beweislast nur, um sie für je fünf Jahre hinter Gitter zu bringen. Redet A, während B schweigt, kommt A frei, B wird für 20 Jahre eingesperrt. Umgekehrt gilt das Gleiche, wenn B redet und A schweigt. Reden beide, gibt es für beide je zehn Jahre. Je nach individuellem Verhalten drohen also 5, 10 oder 20 Jahre Knast.





Nashs Gleichgewicht prognostiziert in diesem Fall, dass beide reden und für zehn Jahre ins Gefängnis gehen. Und das, obwohl sie durch Schweigen die Strafe jeweils halbieren könnten. "Das Gleichgewicht zeigt, wann das Verfolgen von Eigeninteresse zum sozialen Optimum führt und wann nicht", sagt Spieltheorie-Experte Rieck. Im Gefangenendilemma stünde die Kooperation auf wackligen Beinen. In diesem Fall hätten beide Spieler die Möglichkeit, sich durch ein Geständnis sofort freizukaufen. Da diese Gefahr von beiden antizipiert wird, gestehen sie von vorneherein.
Die Crux mit dem Gleichgewicht
Nashs Kollegen wollten ihm mit diesem Beispiel vorführen, dass sein Gleichgewicht nicht immer zu effizienten Ergebnissen führt. Doch der Schuss ging nach hinten los. "Vor Nash hat man nicht verstanden, dass Kooperation selbst dann nicht immer zustande kommt, wenn es sich für alle lohnen würde", sagt Ökonom Ockenfels. Als Berater des Weltklimarats (IPCC) beobachtet er dieses Verhalten oft in der Realität. "Große gesellschaftliche Herausforderungen wie der Klimaschutz haben genau diese Dilemmastruktur", so Ockenfels. Auch wenn die meisten Staaten die Vorteile einer weltweiten Reduzierung von Treibhausgasen erkennen, mag es für jedes Land individuell lohnender erscheinen, das eigene Verhalten nicht zu ändern. Doch was für ein einzelnes Land optimal scheint, könnte für die Weltgemeinschaft fatal sein.
Nobelpreis trotz Schizophrenie





Dass seine Erkenntnis in der Ökonomie einmal so hohe Wellen schlagen würde, hätte Nash in den Fünfzigerjahren nicht unbedingt erwartet. "Ich wusste, es war eine gute Arbeit, aber diese Auswirkungen konnte man nicht absehen", sagte er in einem Interview. Eigentlich wollte er auf einem anderen Feld glänzen: der Mathematik. Es faszinierte ihn, mathematische Probleme zu lösen, egal, ob während seiner Schulzeit in Bluefield/West Virginia oder seinen ersten Studienjahren am Carnegie Institute of Technology. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten unterstreicht ein Empfehlungsschreiben eines damaligen Professors, der Nashs Wunsch einer Promotion in Princeton unterstützen wollte. Es bestand aus einem Satz: "Dieser Mann ist ein Genie."
In Princeton machte er diesem Ruf alle Ehre. Berüchtigt war seine Arroganz gegenüber jedem, der geistig nicht mit ihm mithalten konnte. Seine Dissertation auf nur 28 Seiten war ein Meilenstein für die Spieltheorie. In der Mathematik leistete er wichtige Beiträge zur algebraischen Geometrie. Alles schien gut zu laufen für den jungen Überflieger.
Bis zu dem Tag, als er vorgab, von Außerirdischen kontaktiert worden zu sein.
Nash wurde über Nacht paranoid, glaubte an eine kommunistische Verschwörung gegen ihn. Im Alter von nur 30 Jahren landete er in einer psychiatrischen Klinik. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. Die Krankheit kostete ihn seine besten Jahre. Zwischen 1960 und 1990 hörte man allenfalls Gerüchte über seinen Verbleib. An neue akademische Großtaten war nicht zu denken.
Die überraschende Wendung kam 1994. Nash erhielt den Wirtschaftsnobelpreis. Bei der Preisverleihung erschien ein gealterter, aber gesunder und freundlicher Mann. "Ich habe mich irgendwann dazu entschieden, nicht mehr auf die Stimmen in meinem Kopf zu hören", sagte er in einem späteren Interview.
Die wissenschaftliche Forschung hat John Forbes Nash auch heute, im hohen Alter von 85 Jahren, nicht losgelassen; er interessiert sich vor allem für Kooperationsstrategien. Gemeinsam mit Axel Ockenfels, dem deutschen Nobelpreisträger Reinhard Selten und der Ökonomin Rosemarie Nagel hat Nash Anfang des Jahres eine neue Arbeit im US-Journal PNAS veröffentlicht – jenem Medium, in dem er vor 63 Jahren seine erste bahnbrechende Arbeit unterbrachte.