Als Kenneth Arrow 1951 seine Doktorarbeit vorlegt, weigern sich die zuständigen Professoren, das Werk zu begutachten. Der junge Wissenschaftler hatte ein kompaktes 120-Seiten-Stück mit dem Titel „Social Choice and Individual Values“ vorgelegt, doch die Ökonomen verstehen es schlichtweg nicht. Viel zu mathematisch sei der Text, Arrow habe sich wohl in der Fakultät geirrt. Sie reichen das Manuskript weiter an ihren Kollegen Ted Anderson, Professor der Mathematik. Der studiert es, stuft es zwar im Kern als ökonomisches Werk ein, gibt aber dennoch seine Meinung ab: bahnbrechend. Nur sechs Jahre später bekommt Arrow die John-Bates-Clark-Medal, 1972 dann den Nobelpreis – als jüngster Forscher aller Zeiten. Eine Wissenschaftler-Generation danach geht das landläufige Urteil noch weiter: Arrow hat mit seiner Doktorarbeit einen ganz neuen Zweig der Wissenschaft begründet.
Kenneth Arrow war der erste Ökonom, der gesellschaftliche Entscheidungen von einem ökonomisch-mathematischen Blickwinkel aus betrachtet hat. Bis dahin hatten Ökonomen stets den rational handelnden Einzelakteur zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Analysen gemacht. Untersucht wurde, wie eine Summe von Individuen für sich genommen rational entscheidet. Arrow schränkte das ein: Um in der Gruppe ein effizientes Ergebnis zu erzielen, darf gerade nicht jeder für sich rational handeln. Stattdessen muss es darum gehen, ein für die Gruppe rationales Ergebnis zu erzielen.
Eine Art Baukasten
Arrow entwickelte in seiner bahnbrechenden Arbeit neben der grundlegenden Erkenntnis, dass soziale Entscheidungen für die Ökonomie relevant sind, eine Art Baukasten, um solche Entscheidungen zu analysieren. Seitdem haben immer mehr Ökonomen demokratische Entscheidungsprozesse als empirisches Forschungsfeld entdeckt, in offensichtlichem Bezug zu Arrow wird diese Denkschule als Social Choice bezeichnet.
In seinem Hauptwerk geht Arrow der Frage nach, wie die Präferenzen einer Gruppe von Menschen so zusammengeführt werden können, dass das Ergebnis der Summe ihrer Präferenzen entspricht. Auf den ersten Blick scheint diese Frage reichlich überflüssig, schließlich sollte eine einfache Abstimmung genügen: Das Ergebnis, das den meisten Gruppenteilnehmern am besten gefällt, wird ausgewählt. In den meisten Fällen stimmt das auch. Doch es gibt Ausnahmen, in denen diese Regel offensichtlich kein zufriedenstellendes Ergebnis bringt. Ausgangspunkt ist die Situation, in der drei Personen versuchen, aus drei Möglichkeiten eine Wahl zu treffen, zum Beispiel ein dreiköpfiger Unternehmensvorstand, der über Expansionsstrategien diskutiert. Die Gruppenmitglieder wählen aus den Aktivitäten A (den Konkurrenten kaufen), B (ein Joint Venture mit dem Konkurrenten eröffnen) und C (alleine weiter machen) folgende Präferenzreihenfolgen:
Vorstand 1: A, B, C
Vorstand 2: B, C, A
Vorstand 3: C, A, B
Star der Zunft
Hier hilft die Mehrheitsregel nicht weiter, denn jede Alternative wird von jeweils einer Person als erste Präferenz genannt. Auch wenn man die Positionen der einzelnen Alternativen miteinbezieht, kommt man zu keiner Lösung: Ordnet man diesen Werte zu (1, 2, 3) so erreichen alle Alternativen den Gesamtwert von 1+2+3 = 6.
Und das Gedankenspiel ist mehr als ein interessanter Spezialfall. Denn analog ist eine solche Situation mit jeder Anzahl von Alternativen und Gruppenmitgliedern denkbar, solange alle möglichen Präferenzordnungen in der Gruppe vorkommen. Damit wird aus der Knobelübung ein Paradoxon mit praktischer Relevanz: Wie soll eine Demokratie funktionieren, wenn sie regelmäßig Entscheidungen hervorbringt, die für viele Menschen unbefriedigend sind? Und wie soll die Ökonomie überhaupt funktionieren, wenn kooperatives Handeln ineffiziente Ergebnisse ergibt?
Materielle Sorgen
Dass Arrow überhaupt dazu kam, sich mit dieser wissenschaftlichen Frage auseinanderzusetzen, war durchaus überraschend. Denn nur fünf Jahre vor seiner bahnbrechenden Veröffentlichung hatte er der Wissenschaft den Rücken gekehrt. Arrow, 1921 in New York geboren, war das Kind rumänischer Auswanderer. Er studierte zunächst Mathematik. Mit 22 Jahren, als er während des Zweiten Weltkriegs bei der Luftwaffe arbeitet, veröffentlichte er seine erste wissenschaftliche Publikation. Es ging um die Auswertung von Wetterprognosen. Arrow fand durchaus Spaß daran, doch als der Krieg vorbei war, plagten ihn materielle Sorgen. So begab er sich auf die Suche nach einem sicheren Job und bewarb sich um eine Stelle als Mathematiklehrer. Doch er wurde abgelehnt, halb New York strebte zu dieser Zeit nach einer soliden Beamtenlaufbahn. Also nahm Arrow die Karriere an der ökonomischen Fakultät der Universität von Columbia wieder auf – und wurde innerhalb weniger Jahre zum Star der Zunft.
Denn nachdem er das Paradoxon entdeckt hatte, suchte er nach demokratischen Auswegen, also nach Entscheidungsregeln, die keine einzelne Meinung diskriminieren und zu eindeutigen Ergebnissen führen. Dafür entwarf er Mindeststandards in Form von vier Regeln.
Unmittelbar einleuchtend ist dabei das Prinzip der Nichtdiktatur: Die Wahl darf nicht durch ein einzelnes Individuum bestimmt werden, sonst erübrigt sich der Begriff Wahl. In eine ähnliche Stoßrichtung geht das Prinzip der individuellen Souveränität, wonach es keinem Abstimmungsteilnehmer untersagt sein darf, eine bestimmte Alternative auszuwählen.
Daneben stellt Arrow drei logische Anforderungen an die Entscheidung: Wenn alle Individuen eine Alternative einer anderen vorziehen, muss diese auch in der kollektiven Entscheidung bevorzugt werden; die Präferenzen in Bezug auf zwei Variablen dürfen nicht von der Ausprägung einer dritten, irrelevanten, Alternative beeinflusst sein; in den Präferenzordnungen dürfen keine Zirkelschlüsse auftreten, wenn also eine Person A besser findet als B und B besser als C, kann sie nicht C gegenüber A vorziehen.
„Beschränkter Diktator“
In der Folge aber stellt Arrow fest: Wenn man diesen Bedingungen folgt, gibt es keine Entscheidungsregel, die in der Lage ist, aus paradoxen Individualpräferenzen eine rationale Gruppenentscheidung abzuleiten. Als „Unmöglichkeitstheorem“ hat diese Feststellung die Wissenschaft revolutioniert. Zwar ist es nicht so, dass entsprechende Situationen in der Realität haufenweise zu beobachten wären. Doch allein die Erkenntnis, dass sie entstehen können, zeigt die Grenzen jedes vermeintlich fairen Verfahrens der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung auf. Wer Arrows Werk kennt, vermeidet den Trugschluss, die Mehrheitsregel zum gesellschaftlichen Dogma zu verklären.
Dass Arrow in den folgenden Jahrzehnten zum Bezugspunkt einer ganzen Wissenschaftlergeneration wurde, lag jedoch nicht allein an der Bedeutung seiner Arbeit. Arrow erwies sich zudem als großer akademischer Lehrer. Rund um seinen Lehrstuhl an der Universität von Stanford entstand ein akademischer Zirkel, der zu den produktivsten der gesamten USA gehörte. Bis heute haben fünf von Arrows Schülern selbst den Nobelpreis erhalten. Sie loben vor allem Arrows breites akademisches Wissen, das ihn bei fast jeder Fragestellung zum kompetenten Kritiker macht.
Einer seiner Schüler, Eric Maskin, berichtete, wie er sich als Doktorand einmal gemeinsam mit ein paar Lehrstuhlkollegen über Wochen in ein völlig fremdes biologisches Fachthema einarbeitete, um Arrow durch ein wie zufällig inszeniertes Gespräch beim Mittagessen zu testen. Der Großmeister parierte locker: Das sei ja alles recht interessant, aber gebe es da nicht noch eine andere wissenschaftliche Strömung, die hier völlig außer Acht gelassen werde? Die Teilzeitbiologen mussten passen, so weit waren sie mit der Recherche nicht gekommen.
Wissenschaftlich wurde versucht, Arrows Grundprinzipien in Zweifel zu ziehen oder doch noch einen Entscheidungsmechanismus zu finden, der auf Basis der Regeln einwandfreie Entscheidungen erbringt. Beides ist gescheitert. Stattdessen haben viele Wissenschaftler Arrows Grundprinzipien als Ausgangspunkt genutzt, um existierende Entscheidungsmuster empirisch zu überprüfen.
Welche Prinzipien werden dabei häufig verletzt, und wie verändert das den Charakter von Entscheidungen? Nimmt man das Beispiel des Unternehmensvorstands, wird deutlich, dass in der Realität oft eine Art „beschränkter Diktator“ vorzufinden ist. Dabei wird zwar keinem einzelnen Gruppenmitglied die alleinige Entscheidungsgewalt zuerkannt, im Zweifelsfalle aber hat seine Stimme mehr Gewicht.