Es gibt unter den großen Wirtschaftswissenschaftlern der Geschichte so einige ökonomische Autodidakten. Adam Smith, der Urvater der Volkswirtschaftslehre, verstand sich als Moralphilosoph und hatte eine Professur für Logik. David Ricardo arbeitete als Börsenmakler. Franz Böhm, ein wichtiger Vertreter der Freiburger Schule, war Jurist. Der amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Kenneth Arrow ist Mathematiker.
Aber ein Landwirt?
Johann Heinrich von Thünen (1783–1850) gilt mit seiner erdnahen Profession als Exot unter den intellektuellen Vordenkern der Nationalökonomie – und hat doch „erstmals eine in sich geschlossene landwirtschaftliche Produktions- und Standorttheorie entwickelt “, sagt Heinz Kurz, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz und einer der führenden Experten für Dogmengeschichte im deutschsprachigen Raum.
Agrarwirtschaft im Umbruch
Im friesischen Canarienhausen geboren, begründete Thünen die landwirtschaftliche Betriebswirtschaftslehre und gab der Regionalwissenschaft und der Wirtschaftsgeografie wichtige Impulse. In seinem 1826 veröffentlichten Hauptwerk „Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Ökonomie“ analysiert Thünen, warum und wie sich Land- und Forstwirtschaft rund um ein städtisches Zentrum ansiedeln – und welches Agrarprodukt in welcher Entfernung vom Zentrum anzubauen ist, damit eine optimale „Bodenrente“ erzielt wird.
Thünen wächst auf einem landwirtschaftlichen Betrieb auf. Die Agrarwirtschaft in dieser Zeit ist im Umbruch. Die Selbstversorgung der Landwirte tritt in den Hintergrund, das starke Bevölkerungswachstum in den Städten lässt die Nachfrage nach Lebensmitteln steigen. Der mathematisch begabte Thünen macht eine landwirtschaftliche Ausbildung, danach studiert er an der Universität Göttingen zwei Semester Ökonomie. 1806 heiratet er eine mecklenburgische Gutsbesitzertochter und pachtet ein Gut bei Anklam im heutigen Landkreis Vorpommern-Greifswald. 1809, mit einem Erbe von 23 000 Goldtalern versehen, kauft er sich in Tellow am Rande der mecklenburgischen Schweiz seinen eigenen Hof. Den rund 465 Hektor großen Betrieb verwandelt er in den folgenden Jahren in ein hocheffizientes Vorzeigeunternehmen und lebt dort den Rest seines Lebens.
Ineffizienz ist ihm zuwider
Vor allem eine Frage treibt den Gutsbesitzer um: Wie lässt sich landwirtschaftliche Fläche am effizientesten bewirtschaften? Zehn Jahre lang erledigt der kränkliche und unter Augenproblemen leidende Thünen die komplette Buchführung selber; er experimentiert, er notiert akribisch alle Einnahmen und Ausgaben des Gutsbetriebs – und erfindet nebenbei neue Pfluggeräte. „Nichts gibt wohl für einen denkenden Landwirt eine bessere Grundlage, als wenn er im Anfang ganz den Gang der gewöhnlichen Landwirtschaft mitmacht, er wird dann vor zu raschen, unausführbaren Ideen gewarnt“, schreibt der „gnadenlose Objektivist“ (Kurz) später. Jede Ineffizienz in der Produktion ist ihm zuwider: „Wir vergeuden unser Vermögen, wir verschwenden den Schweiß des Arbeiters, um ein Übermaß an Korn hervorzubringen, welches von Menschen nicht verzehrt werden kann, sondern den Ratten, Mäusen und Kornwürmern als Nahrung dient.“
Transportkosten stehen im Zentrum
Das Ergebnis seiner Arbeit ist schließlich seine berühmte Theorie der optimalen Bodennutzung, die sogenannten Thünenschen Ringe. Thünen bedient sich dabei der „isolierenden Abstraktion“, VWL-Studenten heute als Ceteris-Paribus-Klausel bekannt. Im einfachsten Modell gibt es nur eine zentrale Stadt, um die herum sich die Landwirtschaft ansiedelt, um (nur dort) ihre Agrargüter zu verkaufen. Es gibt keinen Außenhandel, der nutzbare Boden hat überall die gleiche Qualität, und der Landwirt ist – ganz im Sinne von Adam Smith, dessen Thesen Thünen stark prägten – ein auf Eigennutz bedachter Profitmaximierer.
Im Kern steht die sogenannte Lage- oder Bodenrente. Dies ist der mögliche Gewinn pro Flächeneinheit, also die Differenz zwischen den Erlösen des Landwirts und den Produktions- und Transportkosten. Die Transportkosten spielen bei Thünen eine zentrale Rolle. In seinem Modell steigen sie proportional mit der Entfernung zur Stadt sowie mit Gewicht und Konsistenz der Ware: „Mit der größeren Entfernung von der Stadt wird das Land immer mehr auf die Erzeugung derjenigen Produkte verwiesen, die im Verhältnis zu ihrem Wert mindere Transportkosten erfordern.“ Holzstämme für den städtischen Schreiner verderben zwar nicht, sind aber ungleich aufwendiger in die Stadt zu karren als ein Korb Radieschen.
Jedes Produkt hat seine Zone
Weil die Bodenrente mit zunehmender Distanz zur Stadt abnimmt, verändern sich auch die Bodenpreise. Die Zahlungsbereitschaft von Agrarinvestoren beim Kauf von Ackerboden ist in großer Entfernung zur Stadt geringer. Umgekehrt steigen die Bodenpreise, je näher ein Feld an der Stadt liegt.
Was folgt daraus? Offenbar existiert für jedes Produkt ein anderer Abstand zur Stadt, bis zu dem sich ein Anbau noch eben lohnt. Je höher die Bodenpreise, umso niedriger müssen nach diesem Kalkül die Transport- und Produktionskosten sein. In der ersten Zone, die direkt an der Stadt liegt, gibt es somit eine besonders intensive Bewirtschaftung der Felder (siehe Schaubild). Hier bauen Landwirte im Optimalfall leicht verderbliche Produkte wie Obst und Gemüse an (die bei längerem Transport kostenintensiv gekühlt werden müssten). Im nächsten Ring folgt die Forstwirtschaft (wegen des aufwendigen Transports der Stämme). Danach kommt in drei Stufen und mit abnehmender Intensität der Getreideanbau. Im dritten Ring herrscht eine Fruchtwechselwirtschaft vor, bei der die Bauern abwechselnd Blatt- und Halmfrüchte anbauen. Dann folgt eine Koppelwirtschaft (bei der Ackerbau und Weidenutzung wechseln) und schließlich die aus dem Mittelalter überlieferte Dreifelderwirtschaft, bei der ein Teil der Fläche zur Bodenerholung brach liegt. Ganz außen liegt die Viehzucht. Danach kommt für Thünen nur noch „unkultivierte Wildnis“.
Räumliche Spezialisierung bleibt wichtig
Wildnis? Spätestens hier dürfte klar werden, dass sich die im 19. Jahrhundert konstruierten Ringe kaum eins zu eins auf die heutige Zeit übertragen lassen – zumal in Zeiten der Globalisierung. „Insgesamt sind die Ringe ein Was-wäre-wenn-Modell unter eng definierten Bedingungen – ändern sich die Bedingungen, ändern sich die Ergebnisse“, sagt Thünen-Experte Kurz. „Gleichwohl finden wir bisweilen in wenig entwickelten Volkswirtschaften und in einigen ländlichen Regionen Europas wie der Toskana eine Raumordnung vor, die den Thünenschen Ringen nahekommt.“ Die Frage nach räumlicher Spezialisierung – ob sich etwa Getreide am lukrativsten in Russland, Deutschland oder Frankreich anbauen lässt – sei „im Zeitalter der Globalisierung wichtiger denn je“.
Unbekannte Schriften in Vorbereitung
„Unter Geografen und Raumwirtschaftstheoretikern ist Thünen der Gründungs-Gott“, schrieb der US-Nobelpreisträger Paul A. Samuelson. Sein Kollege Paul Krugman, ebenfalls Nobelpreisträger, bezieht sich in seinem wirtschaftsgeografischen Lehrbuch „Development, Geography and Economic Theory“ mehrfach auf den Deutschen. Thünen gab zudem wichtige Impulse für die heutige Stadtökonomie, die das bauliche, soziale und wirtschaftliche Geschehen rund um die Zentren der Ballungsräume untersucht. Und offenbar schlummern weitere Erkenntnisse in den Archiven: Der Ausschuss für Theoriegeschichte des Vereins für Socialpolitik bereitet derzeit die Veröffentlichung bislang unbekannter Schriften Thünens zur Ressourcenökonomik vor.
Wenig bekannt ist zudem, dass sich Thünen auch als Sozialreformer sah. „Er war ein großer Humankapitaltheoretiker, der sich intensiv mit der sozialen Frage auseinandersetzte“, sagt Kurz. 1850 veröffentlichte Thünen die Schrift „Der naturgemäße Arbeitslohn und dessen Verhältnis zum Zinsfuß und zur Landrente“. Er führte ein für die damalige Zeit revolutionäres Gewinnbeteiligungsmodell für seine Arbeiter ein, er zahlte Leistungslöhne und baute zwei Wohnhäuser fürs Personal.
In seiner mecklenburgischen Heimat ist Thünen denn auch nicht vergessen: Auf dem Gutsgelände in Tellow ist heute ein Thünen-Museum untergebracht. Gleich daneben gibt es einen Thünen-Park und eine Thünen-Begegnungsstätte. Im historischen Gutshaus, wo der Agrarforscher im 19. Jahrhundert über seinen Berechnungen brütete, können sich Ruhesuchende nun Ferienwohnungen mieten.
Der Tourismus als zusätzliche Einnahmequelle – darauf ist Bauer Thünen zu seiner Zeit noch nicht gekommen.