Geldpolitik „Inflation entsteht, wenn die Menschen anfangen, über Inflation zu reden“

Quelle: imago images

Die Inflation bleibt auch 2022 ein ökonomischer Wegbegleiter in Deutschland und Europa. Will die EZB ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren, muss sie schleunigst gegensteuern, fordert der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing in einem Gastbeitrag.

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Otmar Issing ist Präsident des Center for Financial Studies an der Goethe-Universität Frankfurt. Früher war er Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank.

Zahlreiche Länder melden die höchsten Inflationsraten seit Jahrzehnten: 6,2 Prozent in den Vereinigten Staaten, 4,2 Prozent im Vereinigten Königreich, 5,2 Prozent  in Deutschland und über vier Prozent in der Euro-Zone. Einige behaupten, es handele sich um ein vorübergehendes Phänomen. Andere befürchten hingegen, dass wir uns für einen längeren Zeitraum auf erhebliche Preissteigerungen einstellen müssen – getrieben durch die expansive Geldpolitik und steigende Staatsschulden.

Einigkeit besteht in beiden Lagern immerhin darüber, dass einige der Faktoren bald nachlassen oder verschwinden werden, die für den jüngsten Inflationsschub verantwortlich sind. Im Jahr 2020 sind die Preise nur geringfügig gestiegen und in einigen Fällen sogar gesunken, was eine niedrige Ausgangsbasis für den Anstieg im Jahr 2021 darstellt. Auch der Preisanstieg bei Heizöl, Gas, Benzin und Diesel wird meist als vorübergehend betrachtet. 2022 ist daher in den meisten Ländern mit einem deutlichen Rückgang der Gesamtinflation zu rechnen.

Auf längere Sicht müssen wir uns allerdings auf höhere Preise für fossile Brennstoffe einstellen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Und auch wenn die durchweg steigenden Preise für Baumaterialien, Computerchips und Rohstoffe sich nicht endlos fortsetzen dürften, ist ebenso wenig zu erwarten, dass es hier bald zu einer dauerhaften Entlastung kommt.

Wir haben es mit einem globalen Problem zu tun. Als China in den 1990er-Jahren vollständig in die Weltmärkte eintrat, drückte die daraus resultierende Flut billiger Waren nicht nur auf die Preise, sondern auch auf die Löhne. Da Gewerkschaften den Verlust von Arbeitsplätzen befürchteten, hielten sie sich mit höheren Lohnforderungen zurück. Doch jetzt lässt dieser Druck nach.

Es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Globalisierung zu Ende ist, aber Tatsache ist, dass sich die internationale wirtschaftliche Integration aufgrund der Coronakrise, des Protektionismus der Regierung Trump und des Rückgangs des chinesischen Arbeitskräfteangebots aufgrund der alternden Bevölkerung des Landes verlangsamt hat. Damit könnte von der globalen Wirtschaft möglicherweise eher anhaltender Inflationsdruck ausgehen.

Das Argument, der derzeitige Inflationsanstieg sei nur vorübergehend, geht davon aus, dass die Arbeitslosigkeit weltweit hoch bleibt und die Gewerkschaften schwach sind. In diesem Fall gäbe es keinen Grund zu erwarten, dass die Löhne deutlich steigen und zu einem anhaltenden Preisanstieg führen.

Doch möglicherweise kommt es anders. Auf nationaler Ebene werden Löhne durch den Arbeitskräftemangel in vielen Sektoren in die Höhe getrieben. So hat etwa die Knappheit an Lkw-Fahrern im Vereinigten Königreich zu erheblich höheren Lohnangeboten geführt.

Natürlich war der durch die Pandemie verursachte Konjunktureinbruch nicht mit einem normalen Abschwung vergleichbar, so dass abzuwarten bleibt, wie lange es dauern wird, bis sich diese sektoralen Lohnerhöhungen auf die gesamte Wirtschaft ausdehnen.

Am Ende entscheidet ohnehin die Geldpolitik über die Inflationsentwicklung. Kurzfristig können die Zentralbanken nichts tun, um einen durch steigende Energiekosten verursachten Preisanstieg zu verhindern – und sie sollten es auch nicht versuchen. Es kommt darauf an, dass die Bürger und die Finanzmärkte nicht das Vertrauen in die Entschlossenheit der Zentralbanken verlieren, die Inflation (in der Regel bei etwa zwei Prozent) mittelfristig zu stabilisieren.



Bislang hat die Flutung der Finanzmärkte mit Liquidität – insbesondere durch massive Anleihekäufe – wesentlich dazu beigetragen, die Preise für Vermögenswerte in die Höhe zu treiben. Die Gefahr besteht nun darin, dass diese Preisinflation in Verbindung mit einer starken Ausweitung der Geldmenge auf die Verbraucherpreise übergreift, die ebenfalls von der stark gestiegenen Staatsverschuldung betroffen sind.

Die US-Notenbank Federal Reserve und die Europäische Zentralbank (EZB) gehen stets davon aus, dass die heutigen Inflationserwartungen fest auf dem Zielniveau von zwei Prozent verankert sind. Die meisten veröffentlichten Inflationserwartungen für die USA und die Euro-Zone scheinen diese Auffassung zu bestätigen. Doch die massiven Anleihekäufe dieser Zentralbanken verzerren die Markterwartungen.

Anleger mit höheren Inflationserwartungen tendieren dazu, ihre Anleihen zu Preisen an die Zentralbank zu verkaufen, die sie als hoch betrachten. Daher fehlen diese Inflationspessimisten auf den Finanzmärkten, was dazu führt, dass das Thermometer der Inflationserwartungen eine niedrige Temperatur anzeigt als die tatsächlich gemessene. Da die Inflation über viele Jahren aus dem Blickfeld gerückt war, überrascht es nicht, dass sich die Erwartungen an der Vergangenheit orientieren, als überwiegend damit gerechnet wurde, dass die Preisstabilität anhalten werde. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken spielte eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung dieser Auffassung. Aber Glaubwürdigkeit kann verloren gehen. Was wäre, wenn die Inflationsraten nach dem erwarteten Rückgang Anfang 2022 wieder ansteigen und dann für längere Zeit über der Zwei-Prozent-Marke bleiben? Die Inflationserwartungen könnten sich aus ihrer Verankerung lösen und plötzlich steigen.

Dieses Risiko sollte nicht unterschätzt werden, zumal das Thema Inflation fast überall in den Vordergrund getreten ist, was auf einen deutlichen Wandel im Bewusstsein der Bürger hinweist. Um es frei nach den Worten des ehemaligen stellvertretenden Fed-Vorsitzenden Alan Blinder zu sagen: Inflation entsteht, wenn Menschen anfangen, über Inflation zu reden.

In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, die Änderungen der geldpolitischen Strategie zu untersuchen, die Fed und EZB vorgenommen haben. Mit ihrem Wechsel zu einem „durchschnittlichen Inflationsziel“  strebt die Fed eine Inflation von über zwei Prozent an, um die Unterschreitung dieses Ziels in der Vergangenheit auszugleichen. Doch im neuen Umfeld eines wachsenden Inflationsdrucks könnte die Glaubwürdigkeit der Fed auf eine harte Probe gestellt werden.

Auch die EZB hat mit ihrer neuen geldpolitischen Strategie signalisiert, dass sie das Erreichen einer Inflationsrate von über zwei Prozent wesentlich gelassener sehen wird als in der Vergangenheit. Auch die Glaubwürdigkeit, die sich die EZB über viele Jahre durch ihre Bereitschaft aufgebaut hat, alles zu tun, was nötig ist, um den Wert der Gemeinschaftswährung zu bewahren, könnte nun schnell in Zweifel gezogen werden.

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Die Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Die Zentralbanken sind mit einem hohen Maß an Unsicherheit konfrontiert, und möglicherweise ist auf ihre traditionellen Modelle nicht länger Verlass. Das ist ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass kein Zweifel an ihrer Entschlossenheit besteht, die Stabilität der Währung zu verteidigen. Die Fortsetzung umfangreicher Anleihekäufe und die Festlegung der Politik für längere Zeiträume durch Forward Guidance sind jedenfalls weniger angemessen denn je.

Copyright: Project Syndicate 2021 

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