Henry Kissinger kritisiert Europa wendet sich von der Welt ab

Europa und die USA schwächeln, Asien wächst rasant und Russland sehnt sich nach alter Größe. In dieser Phase der Neuordnung fehlt es ausgerechnet Europa an einer Vision, bemängelt Ex-US-Außenminister Henry Kissinger.

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Europas Visionslosigkeit könnte fatale Folgen haben warnt der Ex-US-Außenminister Henry Kissinger. Quelle: AP

Die Welt ist im Umbruch. In unserer aktuellen Themenwoche „Zukunftsländer“ haben wir skizziert, wie der Westen an Einfluss und Stärke verliert. Europa etwa sei „auf dem absteigenden Ast“, prognostizierte Ex-Banker Jim O’Neill, der bereits 2001 den Wachstumsschub der BRICs-Staaten voraussagte. Die Bevölkerung in Europa altere dramatisch, die Produktivität sei gering und die Reformbereitschaft ebenso. Mexiko etwa sei das reformfreudigste Land der G20, die Politiker in Paris, Berlin und Brüssel hingegen seien „uninspiriert“.

Von der Suche nach einer neuen „Weltordnung“ spricht auch Henry Kissinger, der in Fürth geborene Deutschamerikaner, der in den 1970er-Jahren als US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger die Geschichte maßgeblich mitbestimmte, in seinem neuen gleichnamigen Buch. Vorbei sei die Zeit, in denen die USA, flankiert von Europa, den Kurs vorgeben könnten, so Kissinger. Die Welt sei aufgerufen, eine neue Ordnung zu finden. Ausgerechnet Europa, das aus seiner Vergangenheit viel Wissen in diesen Prozess einbringen könnte, verwehre sich dieser Aufgabe. Noch schlimmer: Europa sei sich nicht einmal im Inneren im Klaren, was der Kontinent sein wolle – ein Staatenbund oder eine lose Zweckgemeinschaft.

Kissingers Buch

In beeindruckender Detailarbeit zeichnet Kissinger den Weg Europas nach dem Fall Roms (476 n. Christus) nach und schildert, wie der Pluralismus „zum bestimmenden Charakteristikum der europäischen Ordnung“ wurde. Obwohl Europa als eine homogene Zivilisation durchaus denkbar gewesen wäre, habe sich auf dem Kontinent nie ein einheitliches Herrschaftssystem oder eine klare europäische Identität herausgebildet. „Europa gedieh durch seine Fragmentierung und akzeptierte seine inneren Trennlinien“, schreibt Kissinger. Pluralität wurde nie als Chaos, sondern als Mehrwert angesehen.

Diese Pluralität fand Ausdruck in dem Westfälischen Frieden und auf dem Wiener Kongress – und in einem Gleichgewicht der Mächte. In Mitteleuropa standen sich mit Frankreich und Deutschland zwei ähnlich mächtige Blöcke gegenüber; mit dem Aufstieg Großbritanniens zur Seemacht im 18. Jahrhundert entstand eine dritte Partei, die sich auf die schwächere Seite auf dem Kontinent schlug und so eine Hegemonie – und damit perspektivisch auch eine Gefahr für England – auf dem Festland verhinderte. „Über zwei Jahrhunderte lang konnten diese Gleichgewichte verhindern, dass sich Europa selbst in Stücke zerriss“, bilanziert Kissinger.

Prägnante Zitate aus dem Kissinger-Buch

Karl XII. von Schweden, der französische König Ludwig XIV., Napoleon und Hitler versuchten, das Gleichgewicht zu stören und Europa zu einen. Doch neben Großbritannien erwies sich auch Russland als ein Teil der Machtbalance in Europa und half, das Gleichgewicht der Kräfte zu wahren. Der Aufstieg Deutschlands ab 1871, der Gründung des Deutschen Reiches, leitete eine Phase ein, so Kissinger, in der Deutschland „das bedeutendste Problem für Europas Stabilität gewesen ist“. Diese Phase wurde mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beendet, nimmt aber mit der Wiedervereinigung neue Fahrt auf. „Europa ist zu der Frage zurückgekehrt, von der es ausgegangen war, die jedoch heute globale Bedeutung gewonnen hat“, ist Kissinger überzeugt. Er fragt: „Welche Ordnung destilliert man aus rivalisierenden Ambitionen und widerstreitenden Trends heraus?“

Keine Vision

Europa muss das „deutsche Problem lösen“, findet der britische Historiker Brendan Simms. Berlin könne das europäische Gleichgewicht empfindlich stören, wenn es innerlich instabil – oder nach außen zu stark sei. „Wird ein mächtiges Deutschland nicht in einen politischen Rahmen eingebunden, hat das Folgen“, sagt Simms. Die zentrale Frage also sei anno 2014, wie auch schon in den vergangenen 200 Jahren, wie der Kontinent mit Deutschland umgehe.

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Simms Lösung: Deutschland müsse eingebunden werden in den europäischen Kontext. Mehr Rechte müssten nach Brüssel verlagert werden. Nicht nur – aber eben auch – von Deutschland.

So weit geht Henry Kissinger in seinem Buch „Weltordnung“ nicht. Während er sich nicht nur durch die Geschichte Europas arbeitet, sondern auch kenntnisreich die Entwicklung Asiens, des Nahen Ostens und natürlich der USA nachzeichnet, lässt er sich nicht zu politischen Äußerungen hinreißen. Zwar kritisiert er, dass die Europäische Union unvollendet sei, „eine Mischform, die konstitutionell zwischen einem Staat und einem Staatenbund liegt“. Deren Bürokratie widerspreche der Demokratie, sie vertrete politische Werte, die sie aufgrund fehlender Institutionen – etwa einer gemeinsamen Außenpolitik, geschweige denn einer gemeinsamen Armee – gegen Widerstände durchsetze könne. Gleichzeitig unterstreicht Kissinger, dass nicht ein US-Amerikaner den Europäern Ratschläge erteilen solle, über ihre Fortentwicklung müssten die Europäer schon alleine entscheiden.

Egal ob als Bundesstaat oder Staatenbund: Wichtig sei, dass Europa sich entscheide und Positionen festlege. Denn sonst laufe der Kontinent, der „vor knapp einem Jahrhundert noch ein Quasimonopol auf die Gestaltung der globalen Ordnung hatte“, so Kissinger, Gefahr, irrelevant und nicht mehr gehört zu werden.

Europa, da kann man Kissinger nur zustimmen, hat offensichtlich noch nicht erkannt, wie sich Macht verschiebt. Zwar versucht Deutschland, als Exportweltmeister neue Märkte zu erschließen und China und mit deutlich geringerer Leidenschaft auch Indien, Vietnam, Nigeria oder Ghana mit Gütern und Wissen bei deren Modernisierung zu helfen. Geopolitisch aber haben Deutschland und Europa „keine Vision“ wie Kissinger richtig moniert. Das könnte fatale Folgen haben, warnt der Deutschamerikaner: „Europa wendet sich just in einem Augenblick nach innen, da die Weltordnung, die es in bedeutendem Maße mit geschaffen hat, von zerstörerischen Entwicklungen bedroht wird, die alle Regionen, die ihre Mitgestaltung versäumen, am Ende in den Abgrund reißen könnte.“

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