ifo-Konjunkturchef im Interview „In den nächsten Monaten kommt noch einiges auf Verbraucher zu“

„Wie die Coronakrise sind auch die derzeitigen Lieferengpässe ein Ereignis, das wir so noch nie erlebt haben“, sagt Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. Das mache verlässliche Prognosen schwierig. Quelle: dpa

Die deutsche Wirtschaft wird sich 2022 von der Krise erholen können, prognostiziert Timo Wollmershäuser. Aber nur unter einer Voraussetzung: Der Stau in den globalen Lieferketten muss sich bis dahin auflösen.

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Timo Wollmershäuser ist Konjunkturchef und stellvertretender Leiter des Zentrums für Makroökonomik und Befragungen am Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung.

WirtschaftsWoche: Herr Wollmershäuser, die großen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Konjunkturprognose für Deutschland heruntergeschraubt und rechnen in diesem Jahr nur noch mit einem Wachstum von 2,4 Prozent. Warum war die Korrektur nötig?
Timo Wollmershäuser: Der Hauptgrund waren die Lieferengpässe in der Industrie. Dieses Problem hatten wir im Frühjahr überhaupt nicht auf dem Schirm und es nicht einmal als mögliches Risiko formuliert. Seit Jahresbeginn sinkt die Wertschöpfung in der Industrie, obwohl die Aufträge auf Rekordniveau sind. Und weil sich in dieser Hinsicht bislang keinerlei Entspannung zeigt, haben wir diesen Abwärtstrend bis zum Jahresende fortgeschrieben. Das hat unsere Prognose deutlich nach unten gedrückt.

Für 2022 haben die Institute ihre Wachstumsprognose hingegen erhöht, von 3,9 Prozent im Frühjahr auf nun 4,8 Prozent. Woher kommt der Optimismus, dass im nächsten Jahr alles wieder gut wird?
Wir glauben, dass die Engpässe mit der Coronakrise zu tun haben und dass sich die Konsumstruktur wieder normalisieren wird, je mehr wir uns aus der Krise herausbewegen – weg von Waren, hin zu Dienstleistungen. Damit würde sich auch die Nachfragestruktur dorthin zurückverändern, wo sie vor der Krise war. Wenn das so eintritt, sitzen die Unternehmen auf dicken Auftragspolstern – weil zuletzt immer mehr Aufträge reinkamen, aber aufgrund fehlender Vorprodukte nie abgearbeitet werden konnten. Das kann einen kräftigen Aufschwung schon Anfang nächsten Jahres auslösen. Dieser Aufschwung steht und fällt aber damit, ob sich die Lieferengpässe tatsächlich auflösen oder nicht.

Sie gehen aber grundsätzlich davon aus, dass die Engpässe in der Industrie bald Geschichte sind?
Diese Annahme ist in unserer Prognose gesetzt. Wie die Coronakrise sind aber auch die derzeitigen Lieferengpässe ein Ereignis, das wir so noch nie erlebt haben. Das macht verlässliche Prognosen schwierig. Es waren vor allem logistische Probleme, die zu den Warenengpässen geführt haben: Warenströme, die sich in der Coronakrise plötzlich veränderten, Häfen in Asien, die wegen neuer Virusausbrüche dichtgemacht wurden und dadurch die fein getaktete internationale Logistikstruktur durcheinandergebracht haben. Wir glauben, dass die meisten dieser Probleme mit der Normalisierung nach der Pandemie verschwinden.

Gilt das auch bei den Chips?
Bei den Mikrochips ist sicherlich ein Großteil der Nachfrage deshalb entstanden, weil wir uns in der Coronakrise plötzlich alle digitalisiert haben. Die Schulen, die Arbeitnehmer im Homeoffice – jeder brauchte digitale Geräte. Und dann kam noch die Automobilindustrie hinzu, die mehr Elektroautos bauen will und soll. Die Nachfrage bei den Autobauern wird bleiben, aber ansonsten wird dieser Schub jetzt nachlassen. Wir haben alle neue Rechner, warum sollten wir jetzt noch mal neue kaufen? Hier dürfte die Nachfrage allmählich zurückgehen. Und das wird auch dazu beitragen, dass sich die Situation verbessert.

Ihr Optimismus in Ehren: Aber was passiert, wenn die Lieferprobleme doch längerfristig bestehen bleiben?
Ganz einfach: Wenn sich die Probleme fortsetzen, fällt die prognostizierte Erholung im Frühjahr 2022 aus. Die deutsche Wirtschaft ist global aufgestellt, deshalb treffen uns globale Logistikprobleme viel stärker als beispielsweise Frankreich. Dort sind die Lieferketten kürzer und bewegen sich vielfach innerhalb des Landes. Und Deutschland ist ja nicht nur abhängig von Zulieferungen bei industriellen Vorprodukten. Auch im Einzelhandel sagen uns 73 Prozent der befragten Unternehmen, dass sie Engpässe haben. Ein anhaltender Lieferstau wird also auch Folgen auf die Konsumkonjunktur haben. Bislang ist die noch eine der tragenden Säulen des prognostizierten Aufschwungs. In allen Konjunkturvorhersagen sind wir davon ausgegangen, dass das Konsumverhalten wieder Vor-Krisen-Niveau erreicht. Kommt es anders, dämpft dies die Konjunktur. Und das wären nur die Erstrundeneffekte fortbestehender Materialengpässe.

Was wären die langfristigen Folgen?
Schon jetzt schicken viele Industrieunternehmen ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit, weil keine Vorprodukte da sind, um zu produzieren. Man muss sich das mal vorstellen: Wir haben Rekordstände bei den Aufträgen und zugleich eine Viertelmillion Kurzarbeiter in der Industrie. Die Frage ist, wie lange das noch so weitergehen kann. Es wird zu weiteren Einkommensverlusten kommen, im schlimmsten Fall sogar zu vermehrter Arbeitslosigkeit, wenn sich die Engpässe langfristig fortsetzen.

Wo wir schon beim Einkommensniveau sind: Welche Folgen hätten fortbestehende Engpässe auf die Inflation?
Die Lieferengpässe sind ganz klar ein Inflationstreiber. Teurere Vorprodukte schlagen sich vielfach unmittelbar auf die Endproduktpreise nieder. Das zeigt sich gerade beim Bau: Es gibt Holz, aber das Schnittholz ist enorm teuer geworden, wodurch wiederum die Baupreise stark ansteigen. An anderer Stelle schlagen sich teurere Vorprodukte erst über Umwege in den Verbraucherpreisen nieder. Verteuern sich Vorprodukte für den Maschinenbau, geht das zunächst nicht direkt in den Warenkorb der Konsumenten ein. Aber wenn die Maschinen teurer werden, schlägt das irgendwann auch auf den Preis der Konsumgüter durch, die mit ihnen produziert werden.

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In Ihrer Konjunkturprognose rechnen Sie mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um drei Prozent im laufenden Jahr und um 2,5 Prozent 2022. Ist die Zeit niedriger Inflationsraten vorbei?
Zumindest kommt in den nächsten Monaten noch einiges auf die Verbraucher zu. Haupttreiber des Inflationsanstiegs sind die hohen Energiepreise. Wir gehen davon aus, dass die Ölpreise auf sehr hohem Niveau bleiben. Und Öl ist eben nicht nur ein Vorprodukt, das die Industrie braucht, sondern auch ein Endprodukt, das wir als Verbraucher im Auto oder beim Heizen konsumieren. Dadurch ziehen die Energiepreise direkt in die Inflationsrate ein. Bei Rohöl, Heizöl und Benzin sehen wir das meist unmittelbar, bei Gas und bei Strom dauert es ein bisschen länger. Beim Gas etwa beobachten wir schon seit Längerem, dass die Marktpreise stark steigen. Erst jetzt aber heben die Energieversorger ihre Preise allmählich an.

Mehr zum Thema: Bei vielen Gütern und Dienstleistungen verschlechtert sich die Qualität. Das wird bei der Preismessung oft nur unzureichend berücksichtigt. Ist die Inflation in Wahrheit noch höher?

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