Russland muss zudem noch ein weiteres Problem lösen: Das Land leidet unter den Wirtschaftssanktionen, die aufgrund des Ukraine-Konflikts verhängt wurden. Wie bewerten Sie die Strafmaßnahmen des Westens?
Ich bin da hin und her gerissen. Zunächst einmal: Ich finde, dass die EU eine Vielzahl von strategischen Fehlern gemacht hat. Der Westen hätte früher erahnen müssen, wie sensibel Moskau auf die Osterweiterung der NATO reagiert und wie wichtig geopolitisch die Ukraine für Russland ist. Obwohl Russland Mitglied der G8 ist, wurde das Land nicht als gleichberechtigter Partner betrachtet. Weil wir die russische Führung nicht wertgeschätzt und verstanden haben, ist die Lage eskaliert.
Russland hat die Krim annektiert und fast einen ukrainischen Bürgerkrieg entfacht.
Dazu komme ich noch. Ich finde aber wichtig, zunächst die Hintergründe des russischen Handelns zu benennen. Der Westen hat Russland unnötig unter Zugzwang gesetzt. Darauf hat Moskau falsch reagiert. Natürlich geht es nicht, dass ein Land das Völkerrecht missachtet und die Souveränität von Staaten, in diesem Fall das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, ignoriert. Sanktionen sind demzufolge verständlich und nachvollziehbar. Allerdings: Wenn beide Seiten Besserung wollen, müssen wir einander zuhören. Nur so ist der Konflikt zu lösen.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Würden Sie Unternehmen unter diesen Umständen raten, sich in Russland zu engagieren?
Ich würde im Moment raten, abzuwarten und zu schauen, wie sich der Konflikt entwickelt. Russland hat – wir haben es besprochen – große strukturelle Probleme. Andererseits: Russische Unternehmen sind derzeit sehr günstig und vielleicht eine Einstiegschance in einen attraktiven Markt der Zukunft.
Die Ukraine-Krise ist derzeit nur eines von vielen politischen Konfliktfeldern. Die Terrormilizen der IS bedrohen die Konjunktur, der gesamte Nahe Osten droht zu implodieren. Müssen die BRICs-Staaten mehr politische Verantwortung übernehmen?
Darüber könnte man stundenlang diskutieren. Wirtschaftlich scheinen die Staaten mehr Verantwortung übernehmen zu wollen. Das zeigen zum Beispiel die Überlegungen, eine Entwicklungsbank in Konkurrenz zur Weltbank zu gründen. Darüber hinaus haben sich die vier Staaten untereinander auf Handelserleichterungen geeinigt und gemeinsame Strategien in außen- und umweltpolitischen Themen erarbeitet. Ich glaube, die BRIC-Staaten sind bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Gilt das denn nur für Themen, die den eigenen Interessen der Länder dienen – oder auch bei teuren, unpopulären, aber notwendigen Politikfeldern wie dem Kampf gegen IS?
Zunächst wollen die Staaten Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Diskussionen nehmen. Das steht sicherlich im Vordergrund. Das lässt der Westen, insbesondere die USA, nicht zu. Der IWF hat schon 2010 beschlossen, den Schwellenländern mehr Stimmenrechte zu geben, Washington blockiert das. Wenn wir nicht bereit sind, den BRICs-Staaten hier mehr Macht zu geben, werden sie sich sicher nicht mit Verve in den Kampf gegen die IS-Milizen stürzen. Die Haltung von Brasilien, Russland, Indien und China ist klar: Erst mehr Mitsprache im IWF und dann erst können wir über politisches Engagement sprechen.