Die Europäische Zentralbank (EZB) gab sich kämpferisch. Wegen der steigenden Inflation sei „höchste Wachsamkeit“ geboten, schallte es aus der Führungsetage der Notenbank, steigende Zinsen seien unvermeidlich. Wenig später schraubte die EZB die Leitzinsen für den Euroraum um 25 Basispunkte nach oben: auf 1,5 Prozent. Man schrieb das Jahr 2011. Der EZB-Präsident hieß Jean-Claude Trichet. Und die Inflationsrate, die damals alle so nervös machte, lag bei rund 2,7 Prozent.
Elf Jahre später ist die Ausgangslage völlig anders. Die Inflation im Euro-Raum hat den historischen Höchstwert von 8,6 Prozent erreicht. Und während fast alle wichtigen Notenbanken der Welt die Zinsen erhöht haben, stand die EZB bis jetzt auf der Bremse. Die amerikanische Notenbank Fed etwa ist der Europäischen Zentralbank dadurch zinspolitisch weit enteilt, was sich nicht zuletzt am Absturz des Euro-Wechselkurses zum Dollar ablesen lässt.
Erst hatten die Strategen im Frankfurter EZB-Tower die Inflationsgefahr über viele Monate mit erstaunlicher Chuzpe kleingeredet, danach die stramm steigenden Preise als rein temporäres Phänomen abqualifiziert, das wegen statistischer Basiseffekte keine höheren Zinsen erfordere. Jetzt, da der Notenbank die Kontrolle entglitten ist, lautet ihr neues Narrativ: Sie kann nichts dafür. Schuld an der Inflation? Corona, Krieg und Energiekrise!
Allerdings sind Reputationsverlust und Handlungsdruck (und auch der Druck von Politik und Öffentlichkeit) mittlerweile derart groß, dass die EZB an der ersten Zinsanhebung seit Juli 2011 nicht mehr herumkommt. EZB-Chefin Christine Lagarde hat für heute einen Zinsschritt von 25 Basispunkten in Aussicht gestellt. Manche Auguren an den Finanzmärkten halten 50 Basispunkte für möglich, so wie es etwa die Notenbankchefs von Österreich, Litauen und Lettland ins Gespräch gebracht haben. Dies wäre ein überraschendes Signal, um die ausufernden Inflationserwartungen von Verbrauchern und Unternehmen einzufangen.
„Die EZB ist geldpolitisch behind the curve, sie muss bei der Zinswende das Tempo erhöhen“, fordert der langjährige Wirtschaftsweise Lars Feld, Chef des Freiburger Walter Eucken-Instituts und wirtschaftspolitischer Berater von Finanzminister Christian Lindner. Bei der anstehenden Sitzung solle sie zwar bei der im Vorfeld kommunizierten Erhöhung von 25 Basispunkten bleiben, um die Märkte nicht zu überraschen. Die Währungshüter sollten aber „zugleich klar kommunizieren, dass ab September weitere Zinssteigerungen folgen – gegebenenfalls um 50 Basispunkte“, sagte Feld der WirtschaftsWoche. Entscheidend ist für den Ökonomen vor allem dies: „Die Märkte und Wirtschaftsakteure brauchen Klarheit, dass die EZB die Inflation endlich entschlossen bekämpfen will.“
Ist die Inflation zu stoppen?
Doch wird das ausreichen, um die Inflation einzudämmen? Es sei unsicher, wie weit die EZB nach dem Termin am Donnerstag zinspolitisch gehen werde, schreibt die Commerzbank in einer aktuellen Analyse. Die Volkswirte der Bank gehen davon aus, dass die Währungshüter die Leitzinsen bis Frühjahr 2023 auf maximal 1,5 Prozent anheben werden. Dies aber „dürfte nicht ausreichen, um die Inflationsrate nachhaltig auf das EZB-Ziel von zwei Prozent zu drücken.“ Wenn es zu einem Gasstopp und Wachstumseinbruch in der Euro-Zone komme, könne der positive Zinstrend im Herbst und Winter sogar schon wieder enden – und die EZB sich zurück zur Nulllinie bewegen.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Was viele Ökonomen fast noch mehr sorgt, ist der umstrittene Spagat zwischen Geld- und Fiskalpolitik, den Lagarde nach der Sitzung heute verkünden und erläutern will. Ein neuer „Transmission Protection Mechanism“ soll die Anleiherenditen in der Währungsunion angleichen und vermeintlich ungerechtfertigte und spekulative Veränderungen der Risikoaufschläge einebnen. Die Idee: Steigen die Zinskosten eines Landes stark an, will die EZB in großem Umfang Anleihen dieses Landes aufkaufen, um durch die zusätzliche Nachfrage die Rendite zu drücken. Auf diese Weise setzt die EZB disziplinierende Marktmechanismen außer Kraft und entlastet die Haushalte von hochverschuldeten Staaten wie Griechenland, Spanien oder Italien.
Für den Präsidenten des ifo Instituts, Clemens Fuest, ist dies eine (nicht zulässige) Staatsfinanzierung durch die Hintertür: „Wenn die EZB diesen Ländern zu niedrigeren Zinsen Kredite gibt, verdrängt sie private Investoren und steigt in die Staatsfinanzierung ein.“ Damit überschreite die Notenbank ihr Mandat.
„Die EZB geht das Problem der hohen Inflation sehr zögerlich an – aber reagiert umgehend mit neuen Programmen auf eine Verschlechterung staatlicher Finanzierungskosten“, kritisiert auch Volker Wieland. Er ist Professor für Monetäre Ökonomie an der Universität Frankfurt und war bis April 2022 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die EZB wolle „weiterhin und möglichst mit wenig Auflagen in großem Stil als Käufer für Staatsanleihen einzelner Länder agieren“. Das lege „den Schluss nahe, dass die EZB zunehmend unter fiskalische Dominanz gerät“. Der Ex-Wirtschaftsweise befürchtet, dass „diese Art von Umverteilung über die Notenbankbilanz, wenn man sie in größerem Stil nutzt, toxisch für den Zusammenhalt der Währungsunion wird“.
Innerhalb der EZB ist die geplante Spread-Kontrolle daher nicht unumstritten. Laut Bundesbank-Präsident Joachim Nagel etwa ist es „in Echtzeit so gut wie unmöglich“ festzustellen, ob eine Spread-Ausweitung fundamental gerechtfertigt ist. Die EZB könne hier „in gefährliches Fahrwasser“ geraten.
Im Jahr 2011, als die Zinsen zum letzten Mal stiegen, kam es übrigens zu einem Wechsel an der EZB-Spitze: Auf den Franzosen Trichet folgte der Italiener Mario Draghi. Er trat sein Amt am 1. November an. Schon acht Tage später senkte die EZB die Zinsen – und danach noch sieben Mal.
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