Kampf gegen die Inflation Die Autarkie-Illusion

Freihandel gegen Inflation und Lieferengpässe? Selbst die USA erwägen die Strafzölle gegen China fallen zu lassen. Quelle: imago images

Lieferengpässe und steigende Preise lassen in vielen Ländern den Ruf nach mehr volkswirtschaftlicher Unabhängigkeit laut werden. Dabei brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Liberalisierung. Ein Gastbeitrag

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Viele weltweit führende Volkswirtschaften sind derzeit mit noch vor wenigen Monaten vollkommen unerwarteten Problemen konfrontiert. Die USA etwa kämpfen mit Blockaden in den Versorgungsketten und sogar mit einer kritischen Verknappung von Babynahrung. Aufgrund der Sanktionen gegen russische Exporte fossiler Brennstoffe erscheint auf einmal die Energieversorgung der Europäischen Union gefährdet. Und fast alle Länder verzeichnen eine hohe Inflation.

Einige erklären diese Probleme mit der übermäßigen Abhängigkeit vom internationalen Handel. Schlagworte wie Deglobalisierung, Fragmentierung, Reshoring, Friendshoring, Entkopplung und Resilienz prägen die Debatte. Dahinter steht die weit verbreitete Meinung, dass Länder den jüngsten Schocks gegenüber weniger verwundbar wären, wenn sie autarker wären. Staatliche Maßnahmen, die Ökonomen als protektionistisch bezeichnen, haben an politischer Unterstützung gewonnen - und das schon seit dem Handelskrieg des damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Jahr 2018. Es wird der Eindruck erweckt, dass Handelsschranken uns alle schützen könnten.

In Wahrheit sind die oben genannten Probleme jedoch gerade Beispiele dafür, wie von Regierungen errichtete Handelsbarrieren die Widerstandsfähigkeit verringert haben. Nicht neue Hürden, sondern eine entschlossene Liberalisierung könnte dazu beitragen, diese Probleme zu entschärfen.

Beginnen wir mit den Engpässen in der US-Schifffahrt. Abhilfe könnte hier die Aufhebung des Jones Act schaffen. Der schreibt vor, dass für den gesamten Schiffsverkehr zwischen den US-Häfen amerikanische Reedereien eingesetzt werden und die Besatzungen zu mindestens 75 Prozent aus Amerikanern bestehen müssen. Die Vorschrift wurde1920 mit dem Ziel erlassen, die Selbstversorgung der USA und die nationale Sicherheit zu verbessern. 

Die Unfähigkeit der US-Schifffahrtsindustrie, plötzliche Nachfrageschübe zu bewältigen, hat jedoch zu Verzögerungen in der Lieferkette beigetragen. Ohne den Jones Act könnten amerikanische Unternehmen Schiffe in ausländischem Besitz anmieten, um Nachfrageschübe wie im vergangenen Jahr zu bewältigen. Die Logistik wäre widerstandsfähiger.

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Was die Unterbrechungen des US-Landverkehrs angeht, so ist ein Mangel an Lkw-Fahrgestellen Teil des Problems. Die Lösung besteht darin, die US-Zölle abzubauen, die die Einfuhr von Fahrgestellen aus dem Ausland behindern. Das könnte dazu beitragen, die Lücke zu schließen.

Der Mangel an Babynahrung in den USA erfordert einen ähnlichen Ansatz. Abbott Nutrition, einer von nur vier großen US-Herstellern von Babynahrung, musste im Februar einige Produkte zurückrufen, nachdem in einer Fabrik Spuren von Bakterien entdeckt worden waren. Rückrufe sind an sich nicht ungewöhnlich. Die daraus resultierende akute Knappheit hätte der internationale Handel jedoch größtenteils ausgleichen können.

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Denn auf den internationalen Märkten gab es keinen Mangel an Säuglingsnahrung. Die USA haben jedoch hohe Schranken gegen die Einfuhr von Milchprodukten errichtet. Dazu gehören Zölle, restriktive administrative Hürden und „Buy American"-Regeln. Sie schränken ein Programm der Bundesregierung für Frauen, Säuglinge und Kinder (WIC) ein, das die Hälfte der in den USA verbrauchten Säuglingsnahrung verteilt. 

Bei einer Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens hatte Trump die Einfuhrschranken für Säuglingsnahrung aus Kanada sogar erhöht. Die US-Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde hat kürzlich zugestimmt, einige bürokratische Hürden abzubauen, um Importe vorübergehend zu ermöglichen. Dass es überhaupt zu einer Versorgungslücke kommt, hätte sich allerdings vermeiden lassen.  

Aus der Episode mit den Babyfläschchen kann man eine allgemeine Schlussfolgerung ziehen. Abhängigkeit vom internationalen Handel kann eine Quelle der Volatilität sein, wenn im Ausland Schocks auftreten. So wurde Deutschland beispielsweise durch die in den vergangenen Jahren absichtlich erhöhte Abhängigkeit von russischem Erdgas sehr anfällig, als Russland im Februar in die Ukraine einmarschierte. Freihandel kann aber die Volatilität abmildern, wenn der Schock im Inland entsteht.

Mittlerweile wollen die EU und die USA insbesondere die aus Russland bezogenen fossilen Brennstoffe durch erneuerbare Energieträger ersetzen. Eine Maßnahme, mit der sich die Kosten für Solar- und Windenergie weiter senken ließen, wäre die Aufhebung von Einfuhrbeschränkungen für Solarpaneele und Windturbinen.

Am 6. Juni kündigte die Regierung von US-Präsident Joe Biden an, neue Zölle auf die Einfuhr von Solarmodulen für zwei Jahre auszusetzen. Das ist nicht nur für die Umwelt eine gute Nachricht, sondern erleichtert es Amerika auch, mit den höheren globalen Energiepreisen fertig zu werden.

In der EU wird es viel schwieriger sein, die Nachfrage nach russischen fossilen Brennstoffen zu verringern. Die Abschaffung von Zöllen und anderen Hindernissen für die Einfuhr von Anlagen für erneuerbare Energien wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Der Abbau von Einfuhrschranken wäre auch ein Mittel gegen die steigende Inflation. Was für Lkw-Fahrgestelle, Säuglingsnahrung und Solarpaneele gilt, trifft auf alle handelbaren Güter zu - sowohl auf Rohstoffe als auch auf Industriegüter. Wegen Zöllen auf US-Importe von Nadelschnittholz aus Kanada erhöhen sich die ohnehin steigenden Kosten für den Wohnungsbau noch weiter. Trumps Zölle auf Stahl und Aluminium treiben die von US-Unternehmen gezahlten Preise nach oben, was wiederum zu höheren Verbraucherpreisen für Nägel, Autos und viele andere Produkte geführt hat.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie schätzte das Peterson Institute for International Economics, dass realistische Maßnahmen zur Handelsliberalisierung eine einmalige Senkung der Inflation des US-Verbraucherpreisindexes um etwa 1,3 Prozentpunkte bewirken könnten. Das entspräche einem Betrag von 797 Dollar pro US-Haushalt.

Berichten zufolge erwägt die Regierung Biden nun, einige von Trumps Zöllen auf Einfuhren insbesondere aus China zurückzunehmen. Dies wäre einer der wenigen konkreten Schritte, um die Inflation sofort zu dämpfen. Zwar würde diese um weniger als 1,3 Prozentpunkte sinken, weil nicht das gesamte von den Forschern zugrunde gelegte „machbare Paket“ verabschiedet wird. Aber es wäre ein ermutigender Schritt.

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Sicherlich wird die Handelsliberalisierung nicht annähernd ausreichen, um die Inflation zu beseitigen. Aber die allgemeine Lehre ist die gleiche wie bei Babynahrung, Transportengpässen und Energiesicherheit: Offenheit für den Handel kann eine Quelle der Widerstandsfähigkeit sein.

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