Karl Marx Der bärtige Gelehrte

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Marx stellt den Mensch in den Mittelpunkt

Weggefährten - Engels, Marx und Lenin Quelle: REUTERS

Dagegen will Marx auf den Menschen zurückgehen, auf sein Sein und seine Tätigkeit, will „auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen…, nicht die Praxis aus der Idee, sondern die Ideenformationen aus der materiellen Praxis“ erklären – und sie verändern. Er bestreitet vehement, dass der Mensch dem Walten der Geschichte ausgeliefert sei, solange er sich dem Walten nicht selbst ausliefere. Die Umstände, so Marx, machen die Menschen so gut wie die Menschen die Umstände. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, dass er mit der „Aufhebung“ der Philosophie vor allem ihre Verwirklichung meint, eine Philosophie der gesellschaftlichen Praxis – und dass Gesellschaftskritik daher Wirtschaftskritik ist, eine Kritik der Art und Weise, wie der Mensch sich selbst (re-)produziert: It’s the economy, stupid!

Unauflösbarer Konflikt

Es war vielleicht Marx’ größte Leistung, dass er die Wucht der industriellen Revolution frühzeitig erfasste und seine humanistische Anthropologie unbeschadet auf das Feld der Ökonomie zu übertragen wusste, ohne moralisch zu werden. Als Brücke diente ihm der Begriff der „Entfremdung“: So wie der Mensch sich durch seine Schöpfung (Gott) von sich selbst entfremde, so werde der Arbeiter in einer arbeitsteiligen Produktionskette vom Produkt seiner Arbeit entfremdet. Marx’ Kritik setzt mit einer Analyse der Ware ein, die er als Träger eines Gebrauchs- und eines Tauschwerts zur „ökonomischen Zellenform“ des Kapitalismus erklärt. Während die Menschen am Gebrauchswert der Ware zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse interessiert seien, komme es dem Kapitalisten auf die Erzeugung von Tauschwerten an – hier schon, gleich zu Anfang, scheint der unauflösbare Konflikt zwischen den Interessen des Kapitals und des Gemeinwohls auf, auf den es Marx ankommt.

Dabei versteht er Arbeit – ganz so wie Adam Smith – als wertschaffende Tätigkeit. Weil aber die Arbeitskraft im Kapitalismus zu einer Ware werde, deren Wert sich, wie der Wert aller Waren, durch die zu ihrer Reproduktion notwendigen Arbeitsmenge definiert, seien die Proletarier als Verkäufer ihrer Arbeitskraft dazu verdammt, ein (Über-)Leben auf Subsistenzniveau zu fristen. Im Gegensatz dazu eigne sich das Kapital die Ware Arbeitskraft an, um mit ihr einen Wert zu schaffen, der größer ist als der Tauschwert der Arbeitskraft. Kurzum: Kapitalismus besteht in der Aneignung von unbezahlter Mehrarbeit.

Wo Marx irrte

Entscheidend ist, dass Marx seine Analyse mit einer radikalen Kritik an der ökonomischen Zunft verbindet, die Kapital und Boden als gegebene Produktionsfaktoren einführt, ohne sie auf das in ihnen Enthaltene, die Arbeit, zurückzuführen. Marx zufolge entlarve sich die Nationalökonomie damit als ein applaudierender Teil desselben Reproduktionsprozesses, über den sie kritisch wachen soll. Und damit, am Ende des ersten Bandes (1867), schließt er den Kreis zu seiner früheren Ideologiekritik: Im Kapitalismus, so Marx, ist die Reproduktion des Kapitals mit der Reproduktion der Klassenverhältnisse kapitalistischer Gesellschaften verbunden. Der Kapitalist erhält sein Kapital (plus Mehrwert) – der Arbeiter erhält sich selbst und sein Elend.

Wie schön, dass sich Marx so gründlich geirrt hat. Dass ausgerechnet er, der das „Bewegungsgesetz“ des Kapitalismus ergründen wollte, das Proletariat als statisches Kollektiv formierte, ist beinah schon grotesk: Natürlich wollen alle Arbeiter kleine Bourgeois sein – und die meisten sind es, Kapitalismus sei Dank, als „abhängig Beschäftigte“ geworden. Marx’ Gedanken zum Wert der Arbeit hingegen sind heute wieder aktuell. Und seine Ideologiekritik, gelesen als Kritik an der „herrschenden Meinung“, hätte also vor allem in der selbstgewissen Ökonomenzunft deutlich mehr demütige Beachtung verdient. n

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