Karlsruhe urteilt zur EZB-Geldpolitik Sprengstoff für die europäische Wirtschaft

Experten und Politiker warnen vor möglichen Turbulenzen nach einem EU-Austritt der Briten. Doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EZB-Geldpolitik könnte noch mehr Sprengkraft für die EU haben, warnen Ökonomen.

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Urteil mit Sprengkraft: Ökonomen fürchten einen offenen Konflikt zwischen Luxemburg und Karlsruhe, sollte das oberste deutsche Gericht das „OMT“ genannte Anleiheaufkauf-Programm der EZB als verfassungswidrig einstufen.

Berlin Schicksalstage für Europa: Zwei Tage vor dem britischen Referendum über ein Ausscheiden aus der EU (Brexit) urteilt das Bundesverfassungsgericht endgültig, ob der Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) im Jahr 2012, notfalls unbegrenzt Anleihen von europäischen Krisenstaaten aufzukaufen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Am morgigen Dienstag entscheidet sich damit nicht nur, wie viel Eigenmacht den Währungshütern der EZB in künftigen Krisen erlaubt ist. Sondern auch, welches Gericht in dieser Frage das letzte Wort hat: Karlsruhe oder Luxemburg.

Ökonomen, wie der Freiburger Wirtschaftsweise Lars Feld, fürchten, dass schon daraus ein großes Problem erwachsen und die Europäische Union schließlich in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Würde das Bundesverfassungsgericht das „OMT“ genannte Anleiheaufkauf-Programm der EZB als verfassungswidrig einstufen, träte es in den „offenen Konflikt“ mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. „Es wäre dann unklar, ob europäisches Recht über nationalem Recht steht“, sagte Feld dem Handelsblatt. „Die EU hätte zu allem sonstigen Unbill eine institutionelle Krise, die viel größere Sprengkraft für die EU hätte als ein Brexit.“

Der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn, sieht durch das Urteil insbesondere Deutschland vor immense Schwierigkeiten gestellt. „Es entscheidet schlicht darüber, ob Deutschland weiterhin noch ein vollwertiges Mitglied des Euro-Raums sein wird, oder ob der Abschied Deutschlands vom Euro beginnt, was ja auch das eigentliche Ziel der Kläger ist“, sagte Horn dem Handelsblatt.

Der IMK-Chef wies darauf hin, dass zu den Kernaufgaben einer Geldpolitik gehöre, in Notsituationen mit ihren unbegrenzten Mitteln an heimischer Währung die Stabilität des eigenen Währungsraum zu sichern. Das sei in allen größeren Industrieländern so. Werde aber der Bundesbank durch das Karlsruher Urteil untersagt, sich hieran zu beteiligen, sei einer Notlagenpolitik zumindest für Deutschland das Fundament entzogen.

„Ein Auto, aus dem die Bremsen ausgebaut wurden, ist aber nicht mehr fahrtüchtig“, sagte Horn. „Deutschland müsste über kurz oder lang den Euro-Raum verlassen.“ Das jedoch, warnte Horn, „wäre ein Triumph für all jene, die eine Renationalisierung der Politik anstreben, mit unübersehbaren wirtschaftlichen Schäden für Deutschland und Europa“.


Wann das Dilemma begann

Das Dilemma, weswegen Europa jetzt womöglich der freie Fall droht, nahm seinen Anfang im Sommer 2012. Aus Griechenland kamen damals immer neue Hiobsbotschaften, viele sahen die Euro-Zone am Abgrund. Notenbank-Präsident Mario Draghi versuchte, die Märkte zu beruhigen und verkündete: „Die EZB wird alles („whatever it takes“) tun, um den Euro zu retten.“

Wenig später ließ er seinen Worten Taten folgen mit dem Beschluss, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen. Obwohl niemals eingesetzt, sorgte das Programm mit dem Namen „Outright Monetary Transactions“ (OMT) für eine Entspannung der Lage. Umstritten ist aber bis heute, ob die EZB damit nicht ihre Kompetenzen überschritten hat.

Mehrere Verfassungsklagen erreichten die Karlsruher Richter, die darauf unmissverständlich Position bezogen: „Gewichtige Gründe“ sprächen dafür, dass der OMT-Beschluss in die Zuständigkeit der EU-Staaten übergreife und gegen das Verbot der Mitfinanzierung von Staatshaushalten verstoße, heißt es in einem Beschluss von Anfang 2014. Vor ihrem endgültigen Urteil legten die Richter aber einige Fragen dem EuGH vor – ein Novum.

Die Luxemburger Richter kamen im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass die EZB-Maßnahme mit Unionsrecht vereinbar war. Damit hat der EuGH der EZB beim Kauf von Staatsanleihen auf Sekundärmärkten keine nennenswerten Grenzen gesetzt. Vielmehr haben die Richter das Verbot monetärer Staatsfinanzierung weiter ausgehöhlt. Die Einwände des Bundesverfassungsgerichts wurden in allen Punkten zurückgewiesen.

Aus Sicht des Präsidenten des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, steht das Bundesverfassungsgericht vor einem „Dilemma“. In seiner Vorlage an den EuGH habe das Gericht klar gesagt, dass das OMT-Programm in seiner jetzigen Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. „Da der EuGH der EZB eine Art Blankovollmacht ausgestellt hat, nach der die EZB selbst bestimmen kann, wo die Grenzen der Geldpolitik sind, kann das Gericht einen Konflikt mit dem EuGH kaum vermeiden, ohne seine eigene Position zu revidieren“, sagte Fuest dem Handelsblatt.


Brüssel könnte gegen Deutschland vorgehen

Am Dienstag kann daher der Fall eintreten, dass Karlsruhe das OMT-Programm weiter aus europarechtlichen oder verfassungsrechtlichen Gründen für unzulässig erklärt. Im ersteren Fall entstünde dann ein Großkonflikt mit dem EuGH. Und auch für die EZB und die Euro-Zone stünde wohl einiges auf dem Spiel. „Bei einer deutlichen Entscheidung gegen OMT könnte es Turbulenzen geben“, sagte Fuest.

Dahinter steht der Gedanke, dass die Bundesbank dann vermutlich nicht bei OMT-Anleihenkäufen mitmachen dürfte. Die Bundesbank ist aber größter Anteilseigner der EZB. Sollte sie sich also nicht beteiligen dürfen, wäre das Versprechen Draghis nicht mehr so viel wert. Das könnte dem Euro-Raum schwer zusetzen. Genau lässt sich das jedoch nicht vorhersagen. Der Wirtschaftsweise Feld etwa glaubt eher nicht an einen Märkteschock kurz vor dem Brexit-Referendum, „aber vielleicht würde es die Turbulenzen danach verstärken“, sagte er.

Der Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH), Oliver Holtemöller, hält es grundsätzlich für gut, wenn die OMT-Frage nun abschließend geklärt ist, „um die Unsicherheit über die Möglichkeiten der europäischen Geldpolitik zu reduzieren“. Eine konkrete Verbindung mit der Brexit-Abstimmung sieht er nicht. „Wenn es im Falle einer Austrittsentscheidung der Briten zu Marktturbulenzen kommen würde, könnte die EZB im Rahmen der geltenden Regeln darauf reagieren“, fügte der Ökonom hinzu. „Aufgrund der ohnehin unbegrenzten Liquiditätsbereitstellung erwarte ich diesbezüglich keine Probleme.“

Ökonom Feld weist auf eine weitere Unwägbarkeit hin. Ein Karlsruher Urteil gegen OMT könnt aus seiner Sicht die Bundesregierung in eine schwierige Lage bringen. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) dürfte bei einem negativen Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Gouverneursrat des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) einem Programmantrag eines Mitgliedstaates nicht zustimmen, wenn damit die Möglichkeit der Aktivierung des OMT-Programms verbunden sei. „Dies würde OMT unmöglich machen und den ESM potentiell lähmen“, sagte der Ökonom.

Der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, glaubt indes, dass Brüssel es nicht tolerieren wird, dass sich Karlsruhe gegen den EuGH stellt. „Ein solcher Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof könnte dazu führen, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anstrengt“, sagte Krämer dem Handelsblatt. Er rechnet daher damit, dass das Bundesverfassungsgericht einen Kompromiss anstreben werde. „So könnte es dem Europäischen Gerichtshof im Ergebnis, aber nicht in der Begründung folgen“, sagte er. Damit dürfte das Urteil an den Finanzmärkten wohl auch keine Turbulenzen auslösen.


Wann es für EZB schwierig werden könnte

Allerdings, schränkt Krämer ein, könne es das Bundesverfassungsgericht der EZB schwerer machen, das seit dem Frühjahr laufende Anleihekaufprogramm (QE) auszuweiten. Denn beim OMT-Urteil hätten die Verfassungsrichter gefordert, dass das Kaufvolumen zu begrenzen sei. „Wenn sie diese Forderung bekräftigen, könnte es für die EZB schwieriger‎ werden, die Obergrenzen für den Kauf von Anleihen erneut anzuheben“, sagte der Commerzbank-Chefökonom.

Seit März 2015 kauft die EZB zusammen mit den nationalen Notenbanken im Währungsraum im Rahmen eines anderen Programms – „QE“ genannt – Staatsanleihen der Euro-Länder auf. Das Kürzel steht für „Quantitative Easing“, was ins Deutsche übersetzt quantitative Lockerung bedeutet. Das Ziel: QE soll die derzeit aus EZB-Sicht viel zu niedrige Inflation künstlich anheizen und eine ruinöse Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen, nachlassendem Konsum und zurückgehenden Investitionen verhindern, was Volkswirte als „Deflation“ bezeichnen. Denn dagegen gibt es kaum ein wirksames geldpolitisches Mittel. Das zeigt etwa der Blick auf Japan, wo die Wirtschaft gut ein Jahrzehnt in einer Deflation gefangen war.

QE wird damit als geldpolitisches Instrument für ganz andere Zwecke eingesetzt als OMT. Letztendlich ist bei QE die Wiederherstellung von Preisstabilität das Ziel, was die EZB als Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent definiert. Denn dann besteht ein ausreichender Sicherheitsabstand zu einer Deflation.

Die EZB hatte im September 2015 beschlossen, nicht nur bis zu 25 Prozent, sondern bis zu 33 Prozent des ausstehenden Volumens einer Anleihe zu kaufen. „Würde die EZB die Obergrenze erneut erhöhen, könnte sie sich dem Verdacht aussetzen, die Obergrenzen nicht ernst zu nehmen. Sie geriete dann in Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht“, sagte Krämer.

Ein solches Konfliktrisiko besteht noch einige Zeit. Denn mindestens bis Ende März 2017 will die EZB im Rahmen dieses QE-Programms Staatsanleihen und andere Wertpapiere - darunter seit kurzem auch Firmenanleihen - im Volumen von insgesamt 1,74 Billionen Euro erwerben. Pro Monat sind Wertpapierkäufe im Volumen von 80 Milliarden Euro geplant.

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