Konjunkturprognose angehoben „Wirtschaftsweise“ warnen vor Überhitzung

Mitten in den Jamaika-Sondierungsgespräche haben die Top-Berater der Bundesregierung das Wort. Die „Wirtschaftsweisen“ legen die aktuelle Konjunkturprognose und Vorschläge für eine zukunftsorientierte Politik vor.

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Die Experten erwarten für 2017 ein Wachstum von 2,0 Prozent. Quelle: dpa

Die Wirtschaftsweisen setzen sich an die Spitze der Konjunkturoptimisten. Für das kommende Jahr sagen sie der deutschen Wirtschaft ein Wachstum von 2,2 Prozent voraus, geht aus dem am Mittwoch veröffentlichten Jahresgutachten des Sachverständigenrates hervor. Die Bundesregierung erwartet lediglich 1,9 Prozent, die führenden Institute 2,0 Prozent. Für das laufende Jahr hob das Expertengremium seine Prognose von 1,4 auf 2,0 Prozent an. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem kräftigen und lang anhaltenden Aufschwung", heißt es in dem 463 Seiten starken Gutachten mit dem Titel "Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik".

Den Aufschwung sehen die fünf Professoren auf einem immer breiter werdenden Fundament. "Der private Konsum, die Staatsausgaben und die Bauinvestitionen steigen bereits seit längerem robust", betonen sie. "Zusätzlich investieren inzwischen die Unternehmen wieder stärker in Ausrüstungen sowie in Forschung und Entwicklung." Zudem entwickelten sich wichtige Exportmärkte, insbesondere die Euro-Zone, zuletzt sehr dynamisch.

Die Weisen sehen aber auch Anzeichen für eine Überauslastung. "Anspannungen innerhalb der deutschen Volkswirtschaft äußern sich beispielsweise darin, dass es für die Unternehmen schwieriger wird, offene Stellen zu besetzen", heißt es in dem Gutachten. "Besonders hoch scheint die Überauslastung der Kapazitäten im Baugewerbe zu sein." Durch die extrem lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank werde dieser Trend noch verstärkt. "Anstatt das Wachstum schrittweise zu verlangsamen, wird das Risiko von Fehlallokationen erhöht", mahnen die Experten.

Raum für weniger Sozialbeiträge

Die Experten haben der nächsten Bundesregierung zu Entlastungen der Steuerzahler in den mittleren Einkommensstufen und zur Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung geraten. In ihrem am Mittwoch vorgestellten Gutachten erklärte der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung": "Mit einer Tarifreform der Einkommenssteuer sollten Mehreinnahmen aus der kalten Progression zurückgegeben werden". Dies müsse abgestimmt werden mit einer "allmählichen" Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Allerdings sollte der finanzpolitische Spielraum gewahrt werden. Deutschland könne es sich nicht leisten, "den Weg einer soliden Finanzpolitik zu verlassen", mahnte der Rat.

Insgesamt rechnen die fünf Wirtschaftsweisen in diesem Jahr mit gesamtstaatlichen Finanzierungsüberschüssen von 31,3 Milliarden Euro oder einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das sei der höchste Stand seit der Wiedervereinigung. Die gute Finanzlage sei aber nicht auf Dauer zu halten, erklärte der Rat. Die Wirtschaftsweisen widersprachen Forderungen nach einer Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge. Die Unternehmensbesteuerung sei effektiver zu gestalten. Zu diesem Zweck schlug das Expertengremium eine Zinsbereinigung des Grundkapitals vor. Eine Erhöhung vermögensbezogener Steuern lehnte der Rat ab.

Raum sieht der Sachverständigenrat für eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. So sei es angesichts der guten aktuell günstigen Lage möglich, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um bis zu 0,5 Prozent zu senken. Die Mängel beim Thema Digitalisierung sollten durch die Einrichtung einer Digitalisierungskommission und einen "innovationsoffenen Ordnungsrahmen" angegangen werden. Digitale Netze sollten im Grundsatz durch private Investitionen finanziert werden. Grundsätzlich sieht der Rat Raum für mehr öffentliche Investitionen in Deutschland, rät aber davon ab, diese auf Pump zu finanzieren.

Geldwende der EZB erforderlich

Außerdem fordern die Wirtschaftsweisen von der EZB eine geldpolitische Wende. "Risiken für die Finanzstabilität sprechen für eine Normalisierung", heißt es. Sie verweisen dabei auf den deutlichen Anstieg der Wohnimmobilienpreise in Europa und speziell Deutschland, wo die Bundesbank in dieser Hinsicht inzwischen in Städten von einer Überbewertung zwischen 15 und 30 Prozent ausgehe. Angesichts des Aufschwungs in der Euro-Zone sollten die Währungshüter ihre Aufkäufe zügig verringern und früher beenden, so die Ökonomen.

Die EZB hat im Oktober beschlossen, das Volumen ihrer monatlichen Wertpapierkäufe ab Januar auf 30 Milliarden Euro zu halbieren und die Geschäfte zugleich bis mindestens September 2018 fortzusetzen. Dies ist aus Sicht der Weisen jedoch keine geldpolitische Wende, vielmehr werde die Bilanz weiter aufgebläht. Die Sachverständigen um den Essener Forscher Christoph Schmidt empfehlen der EZB zugleich, "dringend" eine Strategie für die Normalisierung ihrer Geldpolitik zu veröffentlichen: "Dann könnten sich Marktteilnehmer darauf einstellen und Verwerfungen an den Finanzmärkten eher vermieden werden." Zugleich würde es den Staaten der Euro-Zone damit ermöglicht, sich rechtzeitig auf einen Anstieg der Zinsen vorzubereiten.

Der hohe Anteil der von der EZB und den nationalen Notenbanken gehaltenen Staatsanleihen könnte sich laut den Wirtschaftsweisen als Problem für den Eurorettungsschirm ESM erweisen. Denn seit 2013 enthalten Staatsanleihen im Euro-Raum sogenannte Collective Action Clauses (CACs). Diese stellen sicher, dass die Zustimmung einer Mehrheit der Gläubiger ausreicht, um einen alle Geldgeber betreffenden Schuldenschnitt umzusetzen: "Aufgrund der hohen Anleihebestände im Besitz des Euro-Systems würde ein Mehrheitsbeschluss zur Schuldenrestrukturierung im Krisenfall jedoch schwierig", so die Experten. Denn die EZB könne aufgrund des im EU-Vertrag verankerten Verbots monetärer Staatsfinanzierung nicht für eine Restrukturierung stimmen. Dies könnte den Gegnern einer solchen Maßnahme zu einer Sperrminorität verhelfen.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde 1963 per Gesetz eingerichtet, um die Politik zu beraten. Vorsitzender ist seit 2013 der Ökonom Christoph Schmidt. Dem Gremium gehören außerdem Peter Bofinger, Lars Feld, Isabel Schnabel und Volker Wieland an.

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