
Wenn Englands Investmentguru Jim O’Neill der deutschen Sprache mächtig wäre, hätte er wohl eine andere Wortschöpfung kreiert. Im August empfahl der Chef der Vermögensverwaltung der Investmentbank Goldman Sachs, Erspartes in MIST-Staaten anzulegen. O’Neill versteckt hinter diesem Kürzel die Länder Mexiko, Indonesien, Südkorea und Türkei – Märkte, in denen aus seiner Sicht bald richtig die Post abgeht.
Vor zehn Jahren schon hatte O’Neill mit einem anderen Vier-Buchstaben-Kürzel einen weltweiten Erfolg gelandet. Damals entdeckte er die BRIC-Staaten als Wachstumsturbo der Weltwirtschaft. Sie beschleunigten vor allem auch die deutsche Exportwirtschaft, die vom Aufschwung in Brasilien (siehe 'Flaute am Zuckerhut' , Russland, (siehe 'Russland hängt am Öl wie ein Junkie an der Nadel') Indien und (siehe 'Indien taumelt am Rande einer Krise' ) China (siehe 'Mit Chinas Turbo-Wachstum ist es aus') übermäßig profitierte. Binnen zehn Jahren steigerte das Quartett den Anteil an der Weltwirtschaftsleistung von 11 auf 25 Prozent. Die deutschen Exporte in diese Länder verdreifachten sich.
Ausnahmeerscheinung Turbo-Wachstum
Jetzt zeigt sich, dass das Turbo-Wachstum in diesen vier Ländern eine Ausnahmeerscheinung war: Russland und Brasilien profitierten von hohen Rohstoffpreisen, China vom hohen Staatskonsum, Indien vom rasanten Bevölkerungswachstum. Dazu kommt: „BRIC-Länder sind zehn Jahre über dem Durchschnitt gewachsen, da ein Entwicklungsdefizit enorme Nachfrageschübe bei Konsum- und Industriegütern befeuert hat“, sagt Dirk Hällmayr vom Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte in Frankfurt.
Schlusslicht Brasilien Reales Wirtschaftswachstum der Bric-Staaten | |||
| 2010 | 2011 | 2012 |
Brasilien | 7,5 % | 2,7 % | 2,5 % |
Russland | 4,3 % | 4,3 % | 3,0 % |
China | 10,4 % | 9,2 % | 8,4 % |
Indien | 8,2 % | 7,5 % | 5,9 % |
Quelle: HSBC |
Hohe Exportvolumina
Für die deutsche Wirtschaft hat dies einschneidende Folgen. Zu sehr haben sich hiesige Unternehmen an zweistellige Zuwächse in den BRIC-Staaten gewöhnt. Kippelig ist die deutsche Konjunktur schon jetzt: Hohe Exportvolumina von mehr als einer Billion Euro jährlich gaben ihr bis zuletzt noch Stabilität. Doch sinkt die Ausfuhr, kommt der Abschwung. Ist Deutschlands sonderbarer Boom infolge des Abschwungs der Weltwirtschaft und der Euro-Krise schon bald vorbei?
Das Schreckgespenst der Rezession geht wieder um. Wenn Brasilien, Russland, Indien und China die Puste ausgehe, werde „die weltweite Nachfrage nach deutschen Produkten erheblich leiden“, sagt Kai Carstensen, Konjunkturchef beim Münchner ifo Institut.
Wirtschaftliches Zentrum
China ist nach Frankreich und den Niederlanden nicht nur Deutschlands drittwichtigster Handelspartner, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum Asiens. Wenn China schwächelt, spüren das auch Länder wie Indonesien oder Malaysia – ebenfalls wichtige Absatzmärkte deutscher Exporteure.
Deutsche Konjunkturforscher haben das im Blick. Rolf Langhammer, Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, sagt: „Eine deutliche Schwächung von Chinas Wachstums würde die deutsche Exportwirtschaft stark treffen.“
Die Zeichen, dass es so kommen könnte, mehren sich. Indien meldete jüngst das schwächste Quartalswachstum seit vier Jahren. In China, wo sich Investoren an zweistellige Zuwächse bei Konsum und Industrieproduktion gewöhnt hatten, zeigen fast alle Konjunkturindikatoren nach unten. Im Rohstoffreich Russland kommt der Konsum ins Stocken, Brasilien schockt mit schrumpfender Industrieproduktion.