Leitzins Notenbanken auf dem Holzweg

Wohin steuern die Zentralbanken den Zins? Quelle: REUTERS

Die Zentralbanken richten ihre Leitzinsen am Konzept des natürlichen Zinses aus. Das ist jedoch eine fragwürdige Methode mit gefährlichen Nebenwirkungen.

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Wohin steuern die Zentralbanken den Zins? Diese Frage treibt die Finanzmärkte vor jedem Treffen der Notenbanker um. Das gilt umso mehr als die zinspolitische Strategie der Währungshüter einem ökonomischen Blindflug gleicht. Denn im Mittelpunkt ihrer Entscheidungen über die Höhe der Leitzinsen steht der natürliche Zins. Das Konzept geht zurück auf den schwedischen Ökonomen Knut Wicksell (1851 – 1926). Er definierte den natürlichen Zins als „jene Rate des Darlehenszinses, bei welcher dieser sich gegenüber den Güterpreisen durchaus neutral verhält und sie weder zu erhöhen noch zu erniedrigen die Tendenz hat“. Konkret: Der natürliche Zins ist der Zins, bei dem der Gütermarkt sich im Gleich­gewicht befindet und das Preisniveau stabil ist. Im Idealfall gelingt es den Zentralbanken, mit ihren Leitzinsentscheidungen den Marktzins auf das Niveau des natürlichen Zinses zu bringen.

Das Problem ist nur: Den natürlichen Zins kann man nicht messen oder berechnen, sondern nur schätzen. Das Ergebnis aber ist stark von den verwendeten Modellen abhängig und variiert zudem im Zeitverlauf. Wenn aber schon der Referenzmaßstab für die Geldpolitik nicht genau definiert ist, ist es schwierig zu beurteilen, ob die Marktzinsen darüber oder darunter liegen, die Geldpolitik mithin restriktiv oder expansiv wirkt.

Daher sehen Mitglieder des Verbands der Investment Professionals in Deutschland (DVFA) mit Sorge, dass die auch in der EZB geführte Debatte um die Höhe des natürlichen Zinses den Weg bereiten könnte für eine Erweiterung des geldpolitischen Orientierungsrahmens. Ein im Dezember letzten Jahres von der EZB veröffentlichtes Arbeitspapier legt dar, dass der natürliche Zins seit Jahrzehnten sinke und vieles dafür spreche, dass er im Euroraum aktuell sogar negativ sei. Geldpolitische Relevanz erhält diese vermeintlich akademische Betrachtung dadurch, dass die Bank of England bereits geldpolitische Entscheidungen mit diesem Befund begründet hat (siehe Inflationsbericht der Bank vom August 2018).

Zwar ist auch nach Ansicht der DVFA-Kommission „Geldpolitik“ unbestritten, dass der natürliche Zins in den letzten Jahren und Jahrzehnten tendenziell gesunken ist. Gründe dafür sind das geringeres Trendwachs­tum und demografische Faktoren. Studien belegen, dass die Bevölkerung in den meisten entwickelten Volkswirtschaften altert und schrumpft, weshalb Arbeitskräfte knapp werden. Der Produktionsfaktor Arbeit wird daher vermehrt durch Kapital, also Maschinen und Anlagen ersetzt. Mit steigendem Kapitaleinsatz nimmt die Produktivität des Faktors Kapital ab. Das geringere Produktivitätswachstum geht mit einem  niedrigeren natürlichen Zins einher.

Aus diesen wohl richtigen Erklärungen für einen Rückgang des natürlichen Zinses geldpolitische Schlüsse zu ziehen, halten wir jedoch für falsch. Schon allein die methodischen Schwächen im Konzept sind gravierend:

Erstens lässt sich der natürliche Zins kaum seriös ermitteln. Die bisherigen Modellansätze kommen zu stark abweichenden Ergebnissen über die Höhe und die weitere Entwicklung des natürlichen Zinses. Außerdem ist die statistische Unsicherheit der Modelle recht hoch. Zudem schwankt der errechnete Wert des natürlichen Zinses selbst innerhalb vieler Modelle im Zeitablauf stark.

Zweitens werden für die Ermittlung des natürlichen Zinses häufig kurzfristige Zinssätze herangezogen. Um jedoch als Näherungsgröße für die echten Finanzierungsbedingungen in der Realwirtschaft verwendet werden zu können, sollte ein Zinssatz mindestens eine mittlere Laufzeit aufweisen.

Kein Kompass für die Geldpolitik

Drittens werden Abweichungen des aktuellen Marktzinses vom natürlichen Zins häufig anhand der weitgehend risikofreien Renditen von Bundesanleihen ermittelt. Diese reflektieren jedoch nicht den tatsächlichen Preis für Finanzierungen in der Realwirtschaft.

Die Fokussierung vieler Modelle auf die Rendite (kurzfristiger) Staatsanleihen greift also zu kurz. Wählt man längere Laufzeiten und berücksichtigt man Risiken, fällt der Rückgang des natürlichen Zinses in den vergangenen Jahren deutlich schwächer aus.

Hinzu kommt, dass der Geldpolitik gar nicht der Instrumentenkasten zur Verfügung steht, um die relevanten Markt­zinsen auf das Niveau des natürlichen Zinses zu bringen. Die klassische Zinspolitik einer Notenbank ist nicht dazu geeignet, risikobehaftete Zinssätze mit einer mittleren bis längeren Laufzeit zu steuern. Es wären somit außerordentliche Maßnahmen wie Anleihe- oder sogar Aktienkäufe erforderlich, um die Finanzierungskonditionen der Wirtschaft am natürlichen Zins auszurichten. Damit verstärkt sich der ohnehin bereits zu beobachtende Effekt, dass der Zins, also der Preis des Geldes, seine Allokations­funktion verliert.

Hierin liegt nach Ansicht der DVFA die eigentliche Gefahr dieser Debatte. Sie ist dazu geeignet, den Weg zu bereiten für eine Orientierung der Geldpolitik an einem fragwürdigen theoretischen Konzept – mit der Konsequenz einer dauerhaften Erweiterung des EZB-Instrumentariums um Assetkäufe und einer Verstetigung des Nullzinses. Zwar waren die Anleihekäufe der EZB in der Vergangenheit durchaus hilfreich. Die unkonventionelle Geldpolitik der EZB sowie Null- beziehungsweise Negativzinsen sind aber bei Inflationsraten um 1,5 Prozent und moderatem Wachstum schon seit geraumer Zeit kaum mehr zu rechtfertigen.

Wenn nun noch behauptet wird, angesichts eines natürlichen Zinses von weniger als null Prozent sei ein Leitzins von null Prozent als restriktiv zu werten, so könnte das als Begründung für dauerhafte Negativzinsen, den anhaltenden Einsatz unkonventioneller Instrumente oder eine Veränderung des Inflationsziels verwendet werden. Allein die Debatte über den natürlichen Zins steuert schon die Markterwartungen. Ein Konzept mit derart vielen und gravierenden methodischen Schwächen und Ungenauigkeiten ist jedoch als Kompass für die Geldpolitik abzulehnen.

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