Lieferketten „Engpässe wie im Krieg“

Container am Gamman-Containerhafen im südkoreanischen Busan.  In vielen Häfen weltweit stapeln sich Container, die nicht verschifft werden, weil es an Seeleuten mangelt. Quelle: dpa

Die Inflation muss nicht nur vorübergehend sein, Störungen der Lieferketten könnten länger anhalten, als viele glauben, schreibt Nobelpreisträger Michael Spence. Er fordert mehr Krisenvorsorge und bessere Modelle für die Vorhersage, wie sich Lieferketten entwickeln werden, einschließlich ihrer Reaktion auf Schocks.

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Michael Spence, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, ist emeritierter Professor an der Stanford University und Senior Fellow an der Hoover Institution. Project Syndicate, Übersetzung: Andreas Hubig.


Unterbrechungen der Versorgungsketten behindern die Erholung der Weltwirtschaft erheblich. Die Engpässe – von Rohstoffen bis zu Halbleitern, und den Endprodukten, die von ihnen abhängen – ähneln denen in einer Kriegswirtschaft. Und die Unterbrechungen haben uns überrumpelt.

Makroökonomen warnten, dass die Kombination aus äußerst akkommodierender Geldpolitik, hohen Sparguthaben der privaten Haushalte, aufgestauter Nachfrage und massiven Steuerausgaben das Inflationsrisiko deutlich erhöht. Diese Prognosen bewahrheiten sich immer mehr. Ein Anstieg der Gesamtnachfrage, angeheizt durch Unmengen von Liquidität und überschießende Vermögenspreise, könnte das Angebot übersteigen. Aber die wahrscheinliche Dauer des Ungleichgewichts blieb unbekannt. Viele argumentieren, dass die Inflation – und damit auch die Versorgungsstörungen – „vorübergehend“ sein würden.

Die Teilnehmer an den globalen Lieferketten gehen jedoch zunehmend davon aus, dass die Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage bis weit ins Jahr 2022 anhalten werden – vielleicht auch noch länger. Das globale Wirtschaftswachstum wird für einen längeren Zeitraum durch das beschränkte Angebot gedrückt, ganz anders als in den Jahren nach der globalen Finanzkrise 2008.  

Umso wichtiger ist es, zwei grundlegende Fragen zur Angebotsseite zu klären. Erstens: Gibt es zugrundeliegende Versorgungsengpässe, die auch dann noch bestehen, wenn die pandemiebedingten Blockaden beseitigt sind? Und zweitens: Hat die Konfiguration und Funktionsweise globaler Lieferketten einen Einfluss auf die Angebotsreaktion?

Michael Spence, Nobelpreisträger Quelle: imago images

Pandemie wirbelt den Arbeitsmarkt durcheinander

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Pandemie vorübergehend Veränderungen bei einigen Angebotsfaktoren bewirkt hat. Zunächst einmal sind viele Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden oder haben den Wiedereintritt verschoben. Dies hat wahrscheinlich viel mit den äußerst stressigen oder gefährlichen Bedingungen zu tun, unter denen einige, wie das Gesundheitspersonal, während der Pandemie gearbeitet haben. Viele Seeleute etwa saßen monatelang auf Schiffen fest.

Wenn Arbeitnehmer jetzt solche Stellen annehmen, werden sie wahrscheinlich eine bessere Vergütung und Änderungen der Arbeitsbedingungen fordern. Ebenso wehren sich viele, die während der Pandemie auf Homeoffice umgestiegen sind, gegen eine Rückkehr ins Büro auf Vollzeit-Basis. Solche sich ändernden Anforderungen und Präferenzen implizieren Veränderungen auf der Angebotsseite in vielen Segmenten des Arbeitsmarktes, mit unbekannten langfristigen Folgen.

Aber die Auswirkungen auf das Arbeitskräfteangebot sind nur ein Teil der Geschichte. Wir wussten, dass ein Nachfrageanstieg bevorstand. Warum also wurden die globalen Lieferketten auf dem falschen Fuß erwischt?

Ein Grund dafür ist, dass sich der Nachholbedarf entlud, bevor die Pandemie tatsächlich vorbei war. Während also die Nachfrage stieg, waren wichtige Häfen und Produktionsanlagen weiterhin von pandemiebedingten Unterbrechungen betroffen. Ein weiterer Faktor ist, dass die Nachfrage offenbar über die Spitzenlastkapazität des Systems hinaus gestiegen ist. Die Ausweitung dieser Kapazität erfordert Investitionen und vor allem Zeit. Während die Spitzenlastkapazität bei Dienstleistungen und Gütern wie Strom (der sich nur schwer speichern lässt) entscheidend ist, ist sie bei Gütern weniger wichtig. Die konnten ja zum Beispiel immer gelagert oder umgesteuert werden. Genau hier liegt das Problem. Die derzeit existierenden globalen Versorgungsnetze sind komplex, dezentralisiert und engmaschig, um Effizienz zu maximieren. Doch während dieser Ansatz in normalen Zeiten funktioniert, kann er größere Schocks oder Störungen nicht bewältigen. Insbesondere die Dezentralisierung führt dazu, dass zu wenig in Krisenvorsorge investiert wird, da die privaten Erträge aus solchen Investitionen niedrig sind.

von Jacqueline Goebel, Tobias Gürtler, Henryk Hielscher, Martin Seiwert, Peter Steinkirchner

Komplexe Logistiknetze

Eine weitere Folge der Dezentralisierung ist subtiler und lässt sich vielleicht am einfachsten mit einer Analogie zur Wettervorhersage erklären. Obwohl das Wetter das Ergebnis eines unglaublich komplexen und vernetzten Systems ist, sind die Vorhersagen im Laufe der Zeit immer präziser und genauer geworden, dank hochentwickelter Modelle, die das Zusammenspiel relevanter Faktoren – wie Wind, Luft- und Meerestemperaturen und Wolkenbildung – erfassen.

Die globalen Versorgungsnetze sind ähnlich komplex. Wir können zwar allgemeine Trends vorhersagen –   dass die Nachfrage steigen wird –, aber es gibt keine Modelle, mit denen wir präzise vorhersagen können, wie sich solche Trends auf bestimmte Elemente in den Lieferketten auswirken. Wir können zum Beispiel nicht wissen, wo neue Engpässe auftreten werden, geschweige denn, wie die Marktteilnehmer ihr Verhalten anpassen sollten.

Wenn die Prognosen nicht spezifisch genug sind, um umsetzbar zu sein, kann das System nicht rechtzeitig und effizient angepasst werden. Das System ist im Wesentlichen kurzsichtig: Es entdeckt die Blockaden erst, wenn sie auftreten. Und da es relativ wenig Spielraum hat, führen große Abweichungen von normalen Mustern zu verspäteten Reaktionen, Verknappung, Rückständen und Engpässen, wie wir sie heute erleben.

Künstliche Intelligenz kann helfen

Die Schlussfolgerung ist klar: Wir brauchen bessere Modelle für die Vorhersage, wie sich Lieferketten entwickeln werden, einschließlich ihrer wahrscheinlichen Reaktion auf Schocks. Diese Prognosen müssen öffentlich zugänglich sein, damit alle Beteiligten sie sehen und sich anpassen können. Die Künstliche Intelligenz wäre hier der Schlüssel zum Erfolg. Aber auch eine internationale Zusammenarbeit, bei der die Länder die von den Lieferketten-Netzwerken generierten Echtzeitdaten gemeinsam nutzen, wäre erforderlich.

Die Kosten eines Wirbelsturms oder eines Tsunamis lassen sich erheblich reduzieren, wenn genaue Vorhersagen die Menschen in die Lage versetzen, im Voraus zu planen. Bei Unterbrechungen der Versorgungskette ist das nicht anders.


Mehr zum Thema: Industriemetalle haben sich stark verteuert, weltweit sind die Lieferketten gestört. Der Rohstoffhandel wird immer wichtiger. Einblicke in das verschwiegene Geschäft zeigen, wer weltweit die Fäden im Mangel-Monopoly zieht.


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