Medienkritik Wirtschaftsjournalisten auf dem Wachstumstrip

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Statistik statt Analyse

Das IfK hat mit seinen völlig neuartigen Konjunkturberichten durchschlagenden Erfolg in der Presse. Erst von 1925 an liest man etwa in der „Vossischen Zeitung“ regelmäßig von „Wachstum“ – fast immer in Artikeln, die auf IfK-Berichten beruhen. In Anlehnung an die Wortwahl der IfK-Ökonomen wird dieses Wachstum gern mit organisch anmutenden Vokabeln angereichert: So schreibt der Leiter des Wirtschaftsressorts, Richard Lewinsohn, eine „gesunde Volkswirtschaft“ habe, „sobald sie von unnatürlichen Fesseln befreit ist, den Trieb zu natürlichem Wachstum“.

Für Weiterleser: Ferdinand Knauß, Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde, oekom Verlag, 2016.

Die entscheidende Erfindung aber machen US-amerikanische Ökonomen: das Bruttosozialprodukt (BSP). Spätestens seit den Krisenjahren des New Deal kreist die Fachdiskussion um die Systematisierung der Berechnung des Wohlstandswachstums, und die Warnung, eine aggregierte Zahl könne die gründliche Analyse von Wirtschaft und Wohlstand nicht ersetzen, wird geflissentlich überhört. Die nackte statistische Information steigt zum Wohlstandsindikator auf, wird zum Maßstab für ökonomischen und politischen Fortschritt: „Wir müssen wieder den langen, stetigen und aufwärts führenden Weg eines steigenden Volkseinkommens einschlagen“, so Roosevelt 1938. Seither gilt weltweit die Parole „Mit Wachstum aus der Krise“. Die „Ausweitung der Produktion“, so der Berliner Ökonom Philipp Lepenies, „wird zum Regierungsziel erklärt“.

Als das Bruttosozialprodukt, ausgehend von den USA, nach dem Zweiten Weltkrieg zum Parameter der Wohlstandsmessung in der gesamten westlichen Welt avanciert, nehmen auch Wirtschaftsjournalisten diese „mächtige Zahl“ (Lepenies) begierig auf. Und zwar durchgehend unreflektiert, wie die Analyse damaliger Zeitungsartikel zeigt: Weder im „Spiegel“ noch in der „Zeit“ oder in der „FAZ“ findet sich ein Artikel, der das wohl wirkmächtigste Paradigma der Wirtschaftswissenschaft im 20. Jahrhundert annähernd in seiner Bedeutung erfasst.

Das BSP (später das Bruttoinlandsprodukt, BIP) rückt seit den Fünfzigerjahren in den Mittelpunkt der Wirtschaftsberichterstattung (von Wachstum ist noch kaum die Rede) – und steht dabei von Anfang an als unangreifbare Instanz über den Dingen. Damit hat das BSP den Wirtschaftsjournalismus gründlich verändert. Denn seither schreiben Journalisten nicht nur über Unternehmen oder Märkte, sondern räsonieren auch über den Zustand der Wirtschaft insgesamt – und kommentieren die Politik, die dafür sorgen soll, dass die große BSP-Zahl noch größer wird. Eine Zahl, die nicht nur steigenden Wohlstand anzeigt, sondern zum Goldstandard gesellschaftlicher Stabilität wird: Die Kriege und Krisen der ersten Jahrhunderthälfte scheinen endgültig überwunden.

Kein Wunder, dass sich die Berichterstattung der Wirtschaftsjournalisten in den Jahren des Wirtschaftswunders vor allem um das BSP dreht. Doch richtig in Fahrt kommt der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Journalismus erst in dem Moment, da „Wohlstand für alle“ weitgehend Wirklichkeit geworden ist – und die realen Wachstumsraten sinken.

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