Meinhard Miegel "Machen wir so weiter, laufen wir gegen Wände"

In seinem neuen Buch "Hybris" wirft Meinhard Miegel den modernen Gesellschaften grenzenlose Selbstüberschätzung vor. Wenn die Menschen nicht Maß halten, werde die bestehende Ordnung in sich selbst zusammenfallen, erwartet der Sozialwissenschaftler.

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Meinhard Miegel ist einer der renommiertesten Sozialwissenschaftler Deutschlands. Er ist Vorstandsvorsitzender des

WirtschaftsWoche: „Hybris“, also Größenwahn, war für die alten Griechen ein Frevel gegen die Götter. In ihrem Buch werfen Sie unserer Gesellschaft auf zahlreichen Feldern, nicht zuletzt in der Wirtschaft, totale Maßlosigkeit vor. Aber Ihr Schlusskapitel vermittelt auch den Eindruck, als stünde der Paradigmenwechsel von der Wachstumsgesellschaft zu einer des Maßhaltens unmittelbar bevor. Und wenn nicht, erfolgt dann die Strafe der Götter?

Meinhard Miegel: So könnte man sagen. Denn welche Optionen haben wir? Machen wir noch ein bisschen weiter wie bisher, werden wir absehbar gegen eine Wand laufen. Gerade hat John Kerry in Jakarta eine flammende Rede gehalten, die man noch vor wenigen Jahren nicht aus dem Munde eines amerikanischen Außenministers erwartet hätte. Nicht nur nannte er die Vereinigten Staaten einen der größten Umweltsünder der Welt, sondern er erklärte auch, dass Präsident Obama und er der Auffassung seien, es müsse dringend Abhilfe geschaffen werden. Und Nicholas Stern, der sich vor einigen Jahren im Auftrag der britischen Regierung mit diesen Problemen befasst hat, schreibt jetzt, dass sich alles noch viel schneller und dramatischer verschlechtere, als er 2006 vorhergesehen habe. Ebenso heftig schlagen zahllose weitere Wissenschaftler und internationale Organisationen Alarm. Entwarnung gibt es hingegen fast nirgendwo. Das Problem ist, dass diese Entwicklung noch nicht wirklich in das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten eingedrungen ist. So reden alle über die hohe Arbeitslosigkeit in Spanien, doch dass dort in weiten Teilen der Grundwasserspiegel so weit abgesunken ist, dass über kurz oder lang Bäume nicht mehr wurzeln können, erregt nur eine kleine Zahl von Experten. Dabei ist Letzteres viel folgenreicher als die Arbeitslosigkeit. Und das ist nur die ökologische Dimension. Hinzu kommt die Überbeanspruchung der Gesellschaft.

Meinhard Miegel, Hybris. Die überforderte Gesellschaft, Propyläen 2014, erscheint am 10. März. Quelle: PR

Woran erkennen Sie die?

An vielem, nicht zuletzt an der Scheu vieler junger Menschen, die Lasten von Kindern zu schultern. Das sollen andere tun. Sie selbst fühlen sich mit ihrem Alltag vollkommen ausgelastet. Kinder würden sie überfordern. Auf Dauer kann kein Volk so existieren. Die Menschen müssen sich umorientieren.

Und wenn Sie das nicht wollen?

Dann fällt die bestehende Ordnung in sich zusammen. Dieser Prozess ist weiter fortgeschritten, als viele meinen. Nehmen Sie zum Beispiel die sich ändernde Rolle des Geldes, des Kapitals. Auch wenn das von einer breiten Öffentlichkeit oft noch anders gesehen wird: seine Bedeutung schwindet rapide.

Aber scharf auf mehr Geld sind die Leute nach wie vor.

Gewiss. Unter anderen der Ex-Siemens-Chef Löscher, der sich gerade mit 30 Millionen Euro abfinden lässt. Doch was macht er dann mit diesem Geld? Gründet er ein Unternehmen und schafft Arbeitsplätze oder verwendet er es für wohltätige Zwecke? Es rentierlich anzulegen dürfte ihm nämlich ziemlich schwer fallen. Denn die Zeiten großer Expansion sind - zumindest in der entwickelten Welt - bis auf weiteres vorüber. Manche sprechen sogar von einer säkularen Stagnation. Was aber heißt das für die westliche Kultur? Fragen wie diese werden mittlerweile ziemlich drängend.

Forum der Freiheit

Bei den intellektuellen Eliten und in Teilen des Bürgertums kann man vielleicht eine Abkehr vom expansiven Denken feststellen. Aber in der Politik geht es weiterhin am Ende des Tages nur um eines: Wachstum ist der Maßstab. Bleibt es aus, hat man versagt.

Das ist nicht zu bestreiten. Aber die Politik ist nicht die Vorhut gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern deren Nachhut. Das schmälert nicht ihre Rolle. Denn ohne funktionierende Nachhut zerstreut sich der Tross. Nur Wegweisungen sollte eine Gesellschaft von ihrer Nachhut nicht erwarten. Wegweisungen kommen von anderen: Wissenschaftlern, Künstlern, Medien und nicht zuletzt wachen und engagierten Bürgern.

Gibt es für den Paradigmenwechsel zum Maßhalten, den Sie wünschen, in der gegenwärtigen Parteienlandschaft überhaupt Ansprechpartner?

Durchaus, wenn auch nicht in Gestalt ganzer Parteien. Immerhin hat sich der Bundestag in der vorigen Legislaturperiode dazu durchgerungen, eine Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" ins Leben zu rufen, die einiges sehr Beherzenswerte zu Papier gebracht hat. So soll das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr der entscheidende Wohlstandsindikator sein. Oder denken Sie an die Worte der Kanzlerin, wonach unsere derzeitige Art des Wirtschaftens die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört. Das ist doch schon etwas! Allerdings verkenne ich nicht, dass die jetzige Koalition in diesen Dingen eher rückwärts gewandt ist. Deutschland war da schon einmal weiter. Aber politische Entwicklungen verlaufen eben wie die Echternacher Springprozession: drei Schritte vor und zwei zurück.

Also muss sich die politische Landschaft nicht grundlegend verändern?  

Politiker rudern nur selten gegen den Strom. Wenn sie merken, dass viele beispielsweise umweltbewusster leben oder nicht immer mehr konsumieren wollen, schwenken sie darauf ein. Das politische System passt sich gleitend einer sich ändernden Wirklichkeit an. Im Falle einer ökologischen Katastrophe wäre das allerdings nicht möglich. Rutschte zum Beispiel das Grönland-Eis ins Meer und überflutete der steigende Meeresspiegel ein Sechstel Deutschlands und weltweit zahllose Städte und Regionen, wäre die Lage anders. Das aber ist nicht mein Szenario.

Freiheit und Maßhalten gehören zusammen

Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestages enttäuscht auf der ganzen Linie. Vor allem Union und FDP haben zu der vielleicht wichtigsten Frage der Zeit nichts zu sagen.
von Ferdinand Knauß

Derzeit wird viel über das Ende oder die Zukunft des Liberalismus diskutiert. Ist denn die Gesellschaft des Maßhaltens, die Sie in ihrem Buch in Aussicht stellen, ein freiheitliches Ziel?

Unbedingt. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage: Freiheit und Maßhalten gehören untrennbar zusammen. Ein Staat, der nicht maßhält, beeinträchtigt die Freiheit seiner Bürger. Ein Bürger, der nicht maßhält, zerstört die Freiheit seiner Mitbürger. Und eine Gesellschaft, die nicht maßhält, zerstört ihre Lebensgrundlagen und damit die Freiheit von allen und jedem. 

Kommen wir mal zur Gegenseite. Die Begründungen derjenigen, die weiteres Wirtschaftswachstum für unerlässlich halten, sind meist defensiv: Unser Wohlstand ist in Gefahr und daher müssen wir uns noch mehr anstrengen, bessere Produkte erfinden, um nicht von den Chinesen und anderen aufstrebenden Ländern abgehängt zu werden. Stimmt das nicht?

Ein zentrales Problem der Wachstumsdebatte ist die unterschiedliche, um nicht zu sagen widersprüchliche Verwendung des Wachstumsbegriffs. Kein vernünftiger Mensch kann etwas dagegen haben, wenn das Wissen und Können einer Gesellschaft zunimmt und Produkte ressourcenschonender und umweltverträglicher werden. Doch es gibt auch ein anderes Wachstum, das zur Überschreitung der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde führt. Zurzeit benötigt die Menschheit für ihre Art des Wirtschaftens 1,5 Globen. Wir Deutsche sogar 2,5. Solches Wachstum ist selbstmörderisch, wobei es ziemlich gleichgültig ist, ob es Europäer, Amerikaner oder Asiaten zu verantworten haben. Mit solchem Wachstum miteinander zu konkurrieren ist - wie der Leiter der philippinischen Delegation unlängst auf der Warschauer Klimakonferenz feststellte - "madness". Dieses irrsinnige Wachstum ist aber genau das, was derzeit dominiert.

Also sollen sich auch die noch nicht so reichen Länder in Asien, Lateinamerika und Afrika schon jetzt beschränken?

Sie sollen vorausschauender und weiser handeln, als die früh industrialisierten Länder das getan haben. Die früh industrialisierten Länder - Deutschland eingeschlossen - haben in einer Weise gewirtschaftet, als gäbe es kein Morgen. Das darf sich nicht wiederholen, auch wenn sich in Ländern, in denen Menschen hungern, kein Dach über dem Kopf oder keinen Zugang zu medizinischen und kulturellen Einrichtungen haben, manches anders darstellt als bei uns, die wir ausnahmslos zum reichsten Fünftel der Menschheit gehören. Der Befund ist ernüchternd und beklemmend zugleich: Bisher hat es die Menschheit - mit uns an der Spitze - nicht vermocht, im Rahmen der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde auskömmlichen Wohlstand zu schaffen. Diese Riesenaufgabe harrt noch der Lösung. Aber gewisse Gestaltungsräume gibt es auch jetzt schon. So gibt es keinen Grund, warum in entwickelten Ländern ebenso viele Lebensmittel im Mülleimer landen, wie in ganz Afrika erzeugt werden. Das muss nicht sein.

Die Wirtschaft produziert nicht nur Güter sondern auch Karrieren. Man könnte sogar sagen, dass unser expansives Modell Frieden produziert, weil der, der Ruhm und Reichtum sucht, das nicht mehr beim Nachbarn tun muss.   

Dieses Modell produziert nur so lange Frieden, wie es niemandes Lebensgrundlage beeinträchtigt. Für eine gewisse Zeit war das im Großen und Ganzen der Fall. Jetzt gilt das nicht mehr. Das Wirtschaftswachstum der einen schränkt zunehmend die Entfaltungsmöglichkeiten anderer ein. Künftig wird sich das zuspitzen und möglicherweise in blutigen Kriegen entladen.

Gibt es ein historisches Vorbild, für das, was uns bevorsteht?

Nicht genau. Aber fundamentale Umorientierungen hat es auch früher gegeben. Denken Sie an die Reformation. Da war die Kluft zwischen Lehre und Wirklichkeit so groß geworden, dass ein kleines Mönchlein große Teile Europas zum Einsturz bringen konnte. Die Ausbreitung des Christentums gegen Ende der Antike ist ein weiteres Beispiel. Menschen wenden sich von ihren bisherigen Glaubenswelten ab und neuen zu.

Beide Wandlungen sind sehr blutig verlaufen.

Um das auszuschließen muss die Bevölkerung auf die jetzt anstehenden Veränderungen vorbereitet werden. Sie darf es nicht als etwas Katastrophales empfinden, wenn das bisherige Paradigma ständiger Expansion seine Wirksamkeit einbüßt. Es wäre verhängnisvoll, wenn Menschen unverändert glaubten, es gehe nur mit Wachstum und dieses Wachstum dann ausbleibt. Allerdings bin ich recht optimistisch, dass der Paradigmenwechsel gelingen wird. Denn immer mehr Menschen beginnen an den Segnungen des Wachstums zu zweifeln. Ich hoffe nur, dass diese Zweifel schnell genug um sich greifen und das Verhalten der Menschen ändern werden.

Ist die Gesellschaft, die nach dem von Ihnen erwarteten Paradigmenwechsel kommen wird, noch eine kapitalistische?

Um diese Frage beantworten zu können, müsste ich wissen, was eine kapitalistische Gesellschaft ist. Doch das, was gemeinhin als kapitalistisch apostrophiert wird, hat so viele Gesichter, dass es schwerfällt, eines davon als "das kapitalistische" zu identifizieren. Wir sollten uns deshalb weniger mit Begriffen als vielmehr mit der Wirklichkeit befassen. Wenn jemand nach einigen Jahren gut bezahlter Arbeit noch eine Abfindung von 30 Millionen Euro erhält, dann ist dies nicht kapitalistisch, sondern absurd. Ich halte nichts davon, sich hinter Begriffen zu verstecken, wenn es in Wahrheit um fragwürdiges menschliches Verhalten geht.

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