Monika Schnitzer über Jean Tirole "Die Europäer holen auf"

Wie tickt der neue Ökonomie-Nobelpreisträger Jean Tirole - und was bedeutet seine Wahl für die europäische Forschung? Ein Interview mit der Münchner Ökonomin Monika Schnitzer.

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Monika Schnitzer Quelle: imago images

WirtschaftsWoche Online: Frau Schnitzer, Sie kennen den neuen Nobelpreisträger Jean Tirole von vielen Fachkonferenzen und persönlichen Begegnungen. Was ist er für ein Typ?

Schnitzer: Er ist ein bescheidener Mensch ohne Allüren, gesegnet mit einem phantastischen analytischen Denkvermögen und einem phänomenalen Gedächtnis. Er kann eine Fülle von Informationen abspeichern und systematisieren. Es gelingt ihm, komplexe Sachverhalte herunterzubrechen und auf die wesentlichen Punkte zu reduzieren. Keine Frage: Tirole ist eine sehr gute Wahl.  

Was steht im Kern seiner Forschung?

Es geht darum zu verstehen, wie Märkte funktionieren. Tirole hat in den Achzigerjahren die Industrieökonomik entscheidend vorangebracht, indem er die Spieltheorie auf Wettbewerbs- und Regulierungsfragen anwandte. Vorher hatte sich die Wissenschaft auf Monopolmärkte oder das Modell des vollständigen Wettbewerbs konzentriert, das in der Realität eher selten vorkommt. Die meisten Märkte werden von wenigen großen Unternehmen dominiert. Tirole hatte entscheidenden Anteil daran, ein Instrumentarium zu entwickeln, um die strategische Interaktion in diesen Oligopolen zu analysieren...

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...und dem Staat Regulierungsargumente zu liefern? Ist er ein Verfechter staatlicher Eingriffe?

Nein. Es gibt in der Industrieökonomik ja nicht verschiedene Denkschulen wie in der Makroökonomie. Und das Links-Rechts-Raster passt in dieser Disziplin auch nicht. Tirole ist pragmatisch. Er geht von gewinnmaximierenden Unternehmen aus und hält den Staat nicht für allwissend. Das heißt: Bei einer Regulierung muss der Staat durch ein geschicktes Design der Intervention genügend  Informationen sammeln, um die Wirkungen der Maßnahme möglichst zielgenau gestalten zu können. 

Über 80 Prozent der bisherigen Ökonomie-Preisträger kommen aus den USA. Ist die diesjährige Preisvergabe an den Franzosen Tirole ein Zeichen dafür, dass die US-Dominanz in der ökonomischen Spitzenforschung nachlässt?

Ja. Die Europäer holen auf. Tirole war einer der ersten europäischen Top-Ökonomen, die längere Zeit in den USA geforscht haben, dann aber nach Europa zurückgekehrt sind. Das war bei ihm eine ganz bewusste Entscheidung. Tirole hat in Toulouse gemeinsam mit Jean-Jacques Laffont einen der heute weltweit führenden Standorte für Industrieökonomik aufgebaut, an dem herausragende Wissenschaftler arbeiten. Damit hat er den Ökonomiestandort Europa massiv nach vorn gebracht. Früher war die Spitzenforschung in den USA konzentriert, in Europa gab es nicht viel. Das hat sich verändert, wir haben Spitzenstandorte außer in Toulouse auch in London, Oxford, Bonn, Mannheim, München und Zürich. 

Den letzten Ökonomie-Nobelpreis an einen Deutschen gab es vor exakt 20 Jahren – da erhielt ihn der Bonner Spieltheoretiker Reinhard Selten. Sind unsere Wirtschaftswissenschaftler nicht gut genug?

Doch. Ich bin sicher, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Deutscher den Nobelpreis erhält. Es gibt eine neue Generation junger Spitzenökonomen, die durchaus das Zeug dazu haben.

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