Neue Geldschwemme gewünscht Die Deflationspanik gefährdet die Euro-Zone

Senkt EZB-Chef Mario Draghi heute den Zins? Politiker und Zentralbanker aus den Krisenländern hoffen darauf und warnen deshalb lautstark vor Deflation. Doch hinter der Panikmache steckt eine durchtriebene Strategie.

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Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, muss die sinkenden Preissteigerungsraten im Auge behalten Quelle: dpa

Normalerweise scheren sich Banker und Börsianer nicht darum, ob das Osterfest in den März oder in den April fällt. Doch dieses Jahr ist es anders. Denn die ferientypischen Preisaufschläge bei Pauschalreisen wirbeln zurzeit die Inflationsraten in der Währungsunion durcheinander. Und die sind so wichtig wie selten zuvor. Denn seit die Euro-Inflation im März unerwartet auf 0,5 Prozent einkrachte, streiten sich Ökonomen, Politiker und Zentralbanker, ob der Währungsunion eine gefährliche Deflation, also eine Phase mit rückläufigen Preisen, droht.

Deshalb war die Spannung groß, als die europäische Statistikbehörde Eurostat Mitte vergangener Woche die Inflationsrate für den Monat April veröffentlichte. Wegen des späten Osterfestes im April kam es zu einem leichten Teuerungsschub. Doch mit nur 0,7 Prozent liegt die Inflationsrate weiter meilenweit unter dem selbstgesteckten Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp unter zwei Prozent.

Finanzanalysten fordern Vorgehen der EZB

Das ist Wasser auf die Mühlen all jener, die seit Wochen lautstark vor einer Deflation warnen und die EZB auffordern, die geldpolitischen Zügel zu lockern. So mahnte vergangene Woche Frankreichs Regierungschef Manuel Valls, die Währungshüter sollten eine „angemessenere Geldpolitik“ betreiben, um den vom starken Euro ausgehenden Abwärtsdruck auf die Preise zu bekämpfen.

Unterstützt wird Valls aus der Finanzindustrie. Seit Wochen feuern Analysten von Banken und Finanzdienstleistern Studie um Studie ab, in denen sie das Menetekel einer deflationären Abwärtsspirale für die Euro-Zone an die Wand malen. „Die EZB muss aggressiver gegen den starken Euro und die anhaltend niedrige Inflation vorgehen“, fordert Mark Zandi, Chefökonom des US-Finanzinstituts Moody’s Analytics.

Noch hält die EZB dem Druck stand. Ihr Chef, Mario Draghi, betonte bis zuletzt, er könne keine sich selbst verstärkende Deflation in der Euro-Zone erkennen. Sollten die Abwärtsrisiken für die Preise jedoch zunehmen, sei die EZB zum Handeln bereit. Dass dies schon am Donnerstag dieser Woche der Fall sein könnte, wenn sich die Euro-Hüter in Brüssel treffen, um über die Geldpolitik zu beraten, halten Beobachter für wenig wahrscheinlich. Sie setzen auf das Treffen der Notenbanker Anfang Juni. „Die EZB wird dann nicht darum herumkommen, ihre Inflationsprognose nach unten zu revidieren“, sagt Klaus Bauknecht, Ökonom der Düsseldorfer Bank IKB. Die EZB könnte dies zum Anlass nehmen, die geldpolitischen Schleusen noch weiter zu öffnen.

Es wäre ein geldpolitischer Coup sondergleichen. Denn von einer schweren Deflation, wie sie die Warner an die Wand malen, ist die Euro-Zone so weit entfernt wie der Neptun von der Sonne. „Wir haben das Tief der Inflation hinter uns, bis Ende des Jahres wird sie in Richtung ein Prozent steigen“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank.

In der Abwärtsspirale

Das legt den Verdacht nahe, dass die Deflationswarner etwas anderes im Schilde führen, als die Wirtschaft vor einer Abwärtsspirale zu bewahren. Mit ihrem alarmistischen Geschrei wollen sie der EZB argumentativ den Weg zu einer Inflationspolitik bereiten. Das Ziel dahinter: Die hoch verschuldeten Staatshaushalte sollen vor dem Bankrott bewahrt und durch die Notenpresse finanziert werden. Weil in den Krisenländern die Bereitschaft zu drakonischen Sparmaßnahmen politisch erschöpft, die Aussicht auf hohe Wachstumsraten gering und ein Schuldenschnitt tabu ist, bleibt ihnen nur, die Zinsen zu drücken und die Inflation zu erhöhen, um ihre Schuldenquoten in den Griff zu bekommen.

Dazu aber benötigen sie die EZB. Bringen sie die Euro-Hüter dazu, Staatsanleihen zu kaufen, wäre die Finanzierung der öffentlichen Haushalte über die Notenpresse gesichert – und der Druck zu harten Reformen endgültig verschwunden. Die Euro-Hüter mutierten in diesem Fall zum Lakai der Finanzminister – und die Euro-Schuldenspirale drehte sich immer schneller.

Was es mit der viel beschworenen Deflationsgefahr wirklich auf sich hat und wie Deflation auf die Wirtschaft wirkt, erfahren Sie auf den folgenden Seiten.

Ein Problem mit vielen Ursachen

Was ist Deflation, und wie entsteht sie?

Deflation ist – ebenso wie Inflation – ein monetäres Phänomen. Sie zeigt sich in einem dauerhaften Rückgang des Preisniveaus, der mit einer schrumpfenden Geldmenge einhergeht. Deflation kann mehrere Gründe haben.

Wachstum: Technologische Innovationen lösen kräftige Wachstumsschübe aus. Die Produktivität, also der Output je Kopf, steigt. Wächst die Geldmenge nicht in gleichem Maße wie die reale Produktion, stehen für die Produkte weniger Geldeinheiten zur Verfügung. Die in Geld gerechneten Güterpreise sinken. Allerdings bewirkt der Produktivitätsschub, dass auch die Kosten je Produkteinheit zurückgehen. Sinken Preise und Kosten in gleichem Maße, bleiben die Gewinnspannen der Unternehmen unverändert. Dies stabilisiert Investitionen und Beschäftigung.

Deflation als Folge von Wachstum beteiligt die Arbeitnehmer an den Früchten ihrer Arbeit. Denn sie müssen weniger Geld für die Güter ausgeben. Derzeit gibt es Wachstumsdeflation vor allem bei modernen Kommunikationsgeräten. Der technologische Fortschritt drückt die Stückkosten und die Preise von Computern, Tablets und Smartphones nach unten. Der Versuch der Zentralbanken, einer Wachstumsdeflation durch die Ausweitung der Geldmenge entgegenzuwirken, hat üble Folgen. Die Notenbanker berauben nicht nur die Arbeitnehmer der Chance auf steigende Realeinkommen. Das zusätzlich in die Wirtschaft gepumpte Geld löst zudem einen künstlichen Boom aus, der später in eine Krise mündet – so wie Anfang der Zweitausenderjahre. Damals hätten die Verbraucherpreise wegen der internetbasierten Produktivitätszuwächse sowie der Globalisierung eigentlich fallen müssen. „Durch die enorme Geldproduktion des Bankensystems bei historisch niedrigen Zinssätzen wurde dies verhindert“, sagt Philipp Bagus, Ökonomieprofessor an der Universität Rey Juan Carlos in Madrid. „Die Folge waren zunächst Dotcom- und Immobilienblase, dann die Finanz- und Staatsschuldenkrise“, erklärt Bagus.

Geldhortung: Die Preise fallen zudem, wenn die Menschen Geld horten, statt es auszugeben. Technisch gesprochen sinkt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Ein Grund dafür kann sein, dass die Menschen verunsichert sind. Die Kaufzurückhaltung führt zu sinkenden Preisen. Eine Hortungsdeflation korrigiert sich meist von selbst. Die rückläufigen Preise blähen den realen Geldbestand der Bürger auf, ihre Neigung, Geld auszugeben, steigt dadurch wieder. Geldinjektionen der Zentralbank richten mehr Schaden als Nutzen an. Sie stören den Selbstkorrekturmechanismus und pumpen Preisblasen auf.

Kreditkontraktion: Am meisten gefürchtet wird Deflation, wenn sie das Resultat einer schrumpfenden Kredit- und Geldmenge ist. Kreditkontraktionen treten im Gefolge von Bereinigungskrisen auf, denen inflationäre Boomphasen vorausgegangen sind. Das derzeit herrschende Papiergeldsystem ist besonders anfällig für solche Boom-Bust-Zyklen. Weil die Banken nur einen kleinen Teil ihrer Sichteinlagen durch Zentralbankgeld decken müssen, können sie aus dem vorhandenen Zentralbankgeld ein Vielfaches an Krediten quasi aus dem Nichts produzieren. Der Kredit landet als Buchgeld auf dem Konto der Bankkunden. Die Ausweitung von Geld und Kredit drückt die Zinsen nach unten und löst so einen mit Fehlinvestitionen gespickten Boom aus. Jüngstes Beispiel dafür sind die Immobilienmärkte in Amerika und der Euro-Zone. Fehlinvestitionen hatten dort Preisblasen und Überkapazitäten aufgepumpt.

Zeigt sich, dass die Projekte statt der erwarteten Gewinne Verluste abwerfen, werden sie liquidiert. Die Folge ist eine tiefe Rezession mit einem Haufen notleidender Kredite in den Bankbilanzen. „Die Banken werden vorsichtiger und vergeben zurückgezahlte Gelder nicht erneut, manche gehen sogar bankrott“, sagt Bagus. Die Folge: Das aus dem Nichts geschaffene Buchgeld verschwindet im Nichts, die Kredit- und Geldmengen schrumpfen, die Preise gehen auf Talfahrt. Eine Deflation durch Kreditkontraktion ist mithin nicht die Ursache der Krise, sondern Teil der notwendigen wirtschaftlichen Bereinigung.

Schuldner sind die Verlierer

Sinkende Preise locken Schnäppchenjäger an Quelle: dpa

Wer gewinnt, wer verliert durch Deflation?

Sinkende Preise schmälern die Erlöse der Verkäufer von Waren und Dienstleistungen. Dagegen können Käufer günstiger zuschlagen. Weil jeder Arbeitnehmer und jeder Unternehmer sowohl als Käufer als auch Verkäufer von Waren und Dienstleistungen (etwa der eigenen Arbeitskraft) auftritt, entscheidet das Ausmaß der Preisreduktion bei den verschiedenen Gütern darüber, wer verliert und wer gewinnt. Sinken die Einkaufspreise, Verkaufspreise und Löhne in gleichem Maße, ändert sich an den Gewinnspannen der Unternehmen nichts. Auch die Kaufkraft der privaten Haushalte bleibt unverändert. Den sinkenden Lohneinkommen stehen sinkende Lebenshaltungskosten gegenüber. Gehen die Preise hingegen in unterschiedlichem Maße zurück, werden Einkommen und Vermögen zwischen Verkäufern und Käufern umverteilt. An den realen Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft ändert sich dadurch jedoch nichts.

Deflation beeinflusst auch das Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern. Verlierer sind die Schuldner, deren Verbindlichkeiten real aufwerten. Zur Gruppe der Schuldner gehört der Staat, er ist in vielen Ländern der größte Schuldner. Auf der Gewinnerseite stehen hingegen die Gläubiger, denn ihre Forderungen sind real mehr wert. Entscheidend ist, ob die Schuldner bei Deflation in der Lage sind, ihre Außenstände zu begleichen. Das hängt davon ab, ob ihre Einnahmen und Ausgaben synchron schrumpfen. Ist das der Fall, bleibt der Einnahmenüberschuss stabil. So können sie ihre Schulden tilgen. Schwierig wird es, wenn zwar die Einnahmen, nicht aber die Ausgaben sinken. Dann ist die Zahlungsfähigkeit gefährdet.

Führt Deflation zum wirtschaftlichen Niedergang?

Viele Ökonomen verbinden Deflation mit wirtschaftlichem Niedergang. Das ist vor allem auf die traumatischen Erfahrungen mit der Großen Depression Anfang der Dreißigerjahre zurückzuführen. In der Zeit von 1929 bis 1932 schrumpfte die deutsche Wirtschaftsleistung um knapp 36 Prozent, die Verbraucherpreise gingen zwischen 1929 und 1933 um insgesamt 23 Prozent zurück. Die Zahl der Arbeitslosen kletterte von rund 1,3 Millionen 1928 auf knapp 5,6 Millionen im Jahr 1932. Dem wirtschaftlichen Absturz war eine gewaltige Kreditbonanza vorausgegangen, deren Quelle die extrem lockere Geldpolitik der US-Notenbank Fed war.

BIP und Konsumentenpreise in Deutschland seit 1925

Deutsche Unternehmen, Banken und die Regierung deckten sich damals mit Krediten in Amerika ein. Mit dem geliehenen Geld finanzierten sie die Reparationsverpflichtungen, den Ausbau des Sozialstaates und das Handelsbilanzdefizit. Als die USA nach dem Aktiencrash 1929 ihre Kredite aus Deutschland abzogen, platzte hierzulande die Kreditblase. Unternehmen und Banken gingen bankrott, die Kreditvergabe brach ein, die Menschen horteten ihr Geld, die Preise gingen in den Keller. Weil die Löhne wegen der starren Tarifverträge nicht schnell genug folgten, kam es zu Massenentlassungen.

Historisch gesehen, war die Große Depression jedoch eine Ausnahme, wie eine Studie der US-Ökonomen Andrew Atkeson und Patrick Kehoe zeigt. Die beiden Forscher haben die Entwicklung in 17 Ländern in der Zeit von 1820 bis 2000 analysiert. Sie identifizierten insgesamt 73 Deflationsphasen, von denen jedoch 65 (89 Prozent) ohne Rezession verliefen. Selbst in der Zeit der Großen Depression ging nur in der Hälfte der untersuchten Länder die Deflation mit einer Rezession einher. Die andere Hälfte der Länder wies zwar Deflation, aber keine Rezession auf.

Deflation kann Reichtum bringen

Weltwirtschaftskrise von 1914 bis 1948
Weltkrieg und Hyperinflation vernichten die Vermögen von Millionen Deutschen. Im November 1923 steht ein Dollar bei 4,2 Billionen Mark. Quelle: AKG
Fünfzig Milliarden Reichsmark als Reichsbanknote. Dieser Schein war nur wenige Pennies wert. Quelle: AKG
Spielende Kinder im Jahr 1923. Im Jahr der Hyperinflation war die damalige Reichsmark nichts mehr als Altpapier. Quelle: AKG
Heute erziehen Eltern die Kinder zu gesundem Umgang mit Geld - im Jahre 1923 durften Kinder mit reichlich Geld spielen. Quelle: Interfoto
Börsencrash und Weltwirtschaftskrise lassen die Produktion um fast die Hälfte schrumpfen. Sechs Millionen Deutsche sind arbeitslos. Der Gang zur Suppenküche gehört für die Menschen zum Alltag. Quelle: dpa
Der Börsencrash vom 24. Oktober 1929 breitet sich rasant in der Welt aus. Im Jahre 1933 stellt US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit einer Durchführungsverordnung den privaten Besitz von Gold unter Strafe. Quelle: AP
Auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 wird das internationale Währungssystem reformiert: 40 Staaten vereinbaren feste Wechselkurse, der Wert des Dollar wird in Gold festgelegt. 1974 brach der Gold-Dollar-Standard von Bretton Woods zusammen. Quelle: dpa

Dass Deflation meist sogar mit Prosperität einhergeht, zeigt das Beispiel der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals herrschte in Amerika der Goldstandard, und es gab große Produktivitätsschübe. Die Ausbeutung der Goldminen konnte mit der realwirtschaftlichen Expansion nicht mithalten. Das ließ die Güterpreise von 1865 bis 1896 um rund 27 Prozent sinken, ein Minus von rund einem Prozent pro Jahr. Dennoch wuchs die Wirtschaft in dieser Zeit um über vier Prozent jährlich.

Positive Erfahrungen mit der Deflation machte auch Japan. Die Ende der Neunzigerjahre einsetzende Deflation hat Japan gerade keine verlorene Dekade beschert, vielmehr wuchs die Wirtschaft ähnlich kräftig wie die in Amerika und Europa. Auch die These, die Japaner hätten sich wegen der sinkenden Preise mit Güterkäufen zurückgehalten, ist ein Märchen. Tatsächlich ging die Sparquote der Japaner von zehn Prozent Ende der Neunzigerjahre auf aktuell 1,4 Prozent zurück. Shoppen statt Sparen ist angesagt.

Entscheidend ist, dass die Deflation in Japan mit 0,5 Prozent pro Jahr recht moderat ausfiel. Dadurch konnten die Löhne nach unten folgen, die Gewinnmargen der Unternehmen nahmen zu. Der deutsche Ökonom Arthur Salz erkannte schon 1932, dass bei der Deflation, wie bei so vielem im Leben, die Dosis das Gift macht. In einem Aufsatz für „Der deutsche Volkswirt“, der Vorgängerzeitschrift der WirtschaftsWoche, schrieb Salz: „Es ist aber das rasche und plötzliche starke Sinken und Steigen der Preise, nicht etwa das Sinken der Preise an sich, was die Störung der ganzen Wirtschaft bedingt.“

Wie groß ist das Deflationsrisiko derzeit?

Die Deflationswarner verweisen darauf, dass die Teuerungsrate in der Euro-Zone aktuell mit 0,7 Prozent gefährlich nahe an der Null-Prozent-Marke liegt. In Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal sinken die Preise bereits. Die Deflation drohe daher auf die gesamte Euro-Zone auszugreifen. Zumal die Kreditvergabe an Private seit geraumer Zeit schrumpft. Was die Kritiker jedoch übersehen: Die Deflation in den Krisenländern ist Teil der erforderlichen Bereinigung nach den inflationären Übertreibungen vor der Krise. Ohne sinkende Löhne und Preise können Griechenland und Co. nicht wettbewerbsfähig werden. Denn in der Währungsunion steht ihnen das Mittel der Abwertung ihrer Währung nicht mehr zur Verfügung.

In den meisten Euro-Krisenländern waren die Löhne erstaunlich flexibel. So gelang es Spanien, die Lohnstückkosten seit 2009 um rund sieben Prozent zu senken, in Irland gingen sie um neun Prozent, in Griechenland um 15 Prozent zurück. Die Unternehmen dort verfügen daher noch über viel Spielraum, die Preise zu senken.

Steigende Inflationsraten sind zu erwarten

Die Bilanzsumme der EZB

Dass die Kreditvergabe in den Krisenländern schrumpft, ist ebenfalls Teil der notwendigen Korrektur. Viele Unternehmen und Bürger sind überschuldet. Sie müssen alte Kredite zurückzahlen, statt neue aufzunehmen. Die Sorge, die Krisenländer könnten die Währungsunion in die Deflation treiben, ist unbegründet. Zum einen wächst die Geldmenge in der Euro-Zone nach wie vor, die eng gefasste Geldmenge M1 (Bargeld und Sichteinlagen) expandierte zuletzt mit einer Rate von 5,6 Prozent. Zudem boomt die Konjunktur in den nördlichen Ländern, allen voran in Deutschland. Hohe Tarifabschlüsse lassen die Lohnstückkosten hierzulande kräftig steigen. Mittelfristig sind also in Deutschland und in anderen Ländern im Norden der Euro-Zone steigende Inflationsraten zu erwarten. Das wird die Produkte und Dienstleistungen der Krisenländer zunehmend attraktiv für die Nordländer machen. Die steigende Nachfrage wirkt dem Abrutschen der Preise entgegen.

Was steckt hinter den Deflationswarnungen?

Politiker und Zentralbanker erwecken den Eindruck, als ginge es darum, eine gefährliche Abwärtsspirale der Wirtschaft zu verhindern. Tatsächlich stecken jedoch andere Motive hinter den Deflationswarnungen. Mit alarmistischem Tonfall soll in der Öffentlichkeit der argumentative Boden bereitet werden, auf dem die EZB dann unter dem Deckmantel der Deflationsbekämpfung eine Inflationspolitik betreiben kann. Deren Ziel ist, die überbordenden Staatsschulden abzuschmelzen.

In der Finanzkrise haben die Regierungen gigantische Schuldenberge angehäuft. Derzeit belaufen sie sich im Schnitt der Euro-Zone auf 93 Prozent der Wirtschaftsleistung. Legen Preise und Löhne den Rückwärtsgang ein, gehen die Einnahmen des Fiskus aus Mehrwert- und Einkommensteuer auf Talfahrt. Dagegen sind die meisten Sozialausgaben durch Leistungsgesetze festgezurrt. Sie abzuspecken ist politisch äußerst schwierig. Eine Deflation würde die Staatshaushalte daher noch tiefer in die roten Zahlen rutschen lassen.

Mit welchen Maßnahmen Regierungen und Notenbanken Sparer attackieren können
Instrument: NiedrigzinsAusgestaltung: Notenbank kauft (über Banken, die günstig Geld bekommen) Staatsanleihen; Notenbank hält Leitzinsen untennegativ betroffen wären/sind: Konten, Anleihen, Lebensversicherung, Betriebsrenten, VersorgungswerkeEintrittswahrscheinlichkeit: läuft bereits; •••••wie gefährlich für das Vermögen?: Inflation frisst Zinsen; Sparen lohnt sich kaum; ••••∘Vorteil für Staaten: niedrige Zinslast auf eigene Schuldenhistorische Vorbilder: USA• = unwahrscheinlich/ sehr niedrige Einbußen; ••••• = so gut wie sicher/ sehr hohe Einbußen Quelle: dpa
Instrument: Inflation zulassenAusgestaltung: Notenbanken schöpfen weiter Geld; Bürger verlieren Vertrauen; Umlaufgeschwindigkeit des Geldes steigtnegativ betroffen wären/sind: Bargeld, Konten, Anleihen, LebensversicherungEintrittswahrscheinlichkeit: aktuell gering; langfristig wahrscheinlich; •••∘∘wie gefährlich für das Vermögen?: Hohe Inflation kann sämtliche Geldvermögen entwerten; •••••Vorteil für Staaten: Schulden werden nicht auf dem Papier, aber real drastisch verringerthistorische Vorbilder: Deutschland 1923; Frankreich 18. Jahrhundert; Zimbabwe 2009 Quelle: dpa
Instrument: NegativzinsAusgestaltung: Notenbank setzt negativen Leitzins fest; Banken legen negative Zinsen auf die Guthaben von Sparern um oder verteuern Gebühren/Kreditenegativ betroffen wären/sind: KontenEintrittswahrscheinlichkeit: ist bereits in der Diskussion; •••∘∘wie gefährlich für das Vermögen?: Erspartes leidet nominal durch Negativzinsen und real durch Inflation ••••∘Vorteil für Staaten: höheres Wachstum durch ausgeweitete Kreditvergabe erhoffthistorische Vorbilder: Schweiz 1964, 1970er; Schweden; Dänemark Quelle: dpa
Instrument: VermögensabgabeAusgestaltung: Staat schneidet sich von allen Vermögenswerten einmalig ein Stück abnegativ betroffen wären/sind: Konten, Aktien, Anleihen, ImmobilienEintrittswahrscheinlichkeit: wird diskutiert, aber starker Widerstand zu erwarten; ••∘∘∘wie gefährlich für das Vermögen?: je reicher desto härter; ••••∘Vorteil für Staaten: kann Schulden sofort drastisch senkenhistorische Vorbilder: Deutschland 1918/19, 1952 Quelle: dpa
Instrument: ZwangsanleiheAusgestaltung: Staat zwingt Bürger, einen Teil ihres Vermögens in Staatsanleihen zu packen; wird (teilweise) zurückgezahltnegativ betroffen wären/sind: Konten, Aktien, Anleihen, ImmobilienEintrittswahrscheinlichkeit: wird diskutiert, aber starker Widerstand zu erwarten; ••∘∘∘wie gefährlich für das Vermögen?: hängt von Rückzahlungen ab; •••∘∘Vorteil für Staaten: verschafft Spielraum bis zum Rückzahlungsdatumhistorische Vorbilder: Deutschland 1914, 1922/23 Quelle: dpa
Instrument: Neue SteuernAusgestaltung: Vermögensteuer, zum Beispiel ein Prozent auf steuerpflichtiges Vermögen (nach Abzug von Freibeträgen)negativ betroffen wären/sind: Vermögen generellEintrittswahrscheinlichkeit: politische Forderung; ••••∘wie gefährlich für das Vermögen?: für Vermögende; •••∘∘Vorteil für Staaten: weitere Einnahmenhistorische Vorbilder: Deutschland, wurde 1997 abgeschafft Quelle: dpa
Instrument: Neue SteuernAusgestaltung: Transaktionsteuer von 0,1 Prozent auf Aktien und Anleihen und 0,01 Prozent auf Derivate; fällig für jedes Geschäft negativ betroffen wären/sind: Aktien, Anleihen, Derivate; indirekt auch Fonds und LebensversicherungenEintrittswahrscheinlichkeit: politisch herrscht Konsens; •••••wie gefährlich für das Vermögen?: drückt auch Rendite von Fonds und Versicherungen; •••∘∘Vorteil für Staaten: weitere Einnahmenhistorische Vorbilder: Deutschland 1881–1991; Schweden 1985–1992 Quelle: dpa

Dazu kommt, dass sinkende Preise die Wachstumsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) nach unten drücken. Das lässt die Schuldenlast in Relation zum BIP steigen – für die ohnehin wachstumsschwachen Krisenländer im Süden der Währungsunion wäre das ein Desaster. In einer aktuellen Studie haben Ökonomen des Analyseinstituts Oxford Economics ausgerechnet, dass bei einer jährlichen Deflation von einem Prozent die Schuldenquoten Spaniens, Italiens und Portugals bis 2024 um 30 bis 40 Prozent über das Niveau kletterten, das sie bei einer jährlichen Inflation von 1,5 Prozent erreichen.

Besonders hart träfe es Italien. Die Schuldenlast des Mittelmeerlandes kletterte von derzeit 140 auf rund 166 Prozent im Jahr 2024. Anleger könnten aus Angst vor einem Schuldenschnitt einen großen Bogen um die Südländer machen. Die Folge: steigende Zinsen, sinkende Investitionen und weniger Wachstum. Daher kann es nicht wundern, dass vor allem Politiker und Zentralbanker aus dem Süden der Euro-Zone Deflationsängste schüren. So soll die EZB gedrängt werden Staatsanleihen zu kaufen und die verschuldeten Haushalte mit der Notenpresse zu finanzieren.

Von einem Boom-Bust-Zyklus zum nächsten

Was wird die EZB gegen die Deflation tun?

Auch wenn das Risiko einer ausgewachsenen Deflation gering ist, könnte die EZB die Geldschleusen weiter öffnen. Das dürfte der Fall sein, wenn die Kreditvergabe weiter schrumpft. Weil das Papiergeldsystem auf Kreditwachstum beruht, könnte eine Kontraktion der Kredite dessen Fundament hinwegspülen. In der Logik der Regierungen und Zentralbanker gibt es daher nur eine Gegenreaktion: Die Kreditvergabe muss wieder in Gang gesetzt oder durch gewaltige Liquiditätsspritzen aus der Ampulle der Notenbank ersetzt werden.

So diskutieren die Währungshüter derzeit darüber, den Zinssatz für Einlagen der Banken bei der EZB in den negativen Bereich zu drücken. Das soll die Banken dazu bewegen, mit dem Geld der Zentralbank Kredite zu vergeben, statt es auf den Konten bei der EZB zu horten. Zudem erwägen die Euro-Hüter, den Markt für verbriefte Kredite an Unternehmen zu beleben. Ebenfalls in der Diskussion sind vergünstigte Geldleihgeschäft, die an die Bedingung geknüpft sind, dass die Banken mit dem Geld der EZB Kredite an Unternehmen in den Krisenländern vergeben.

Ob das ausreicht, die Kreditvergabe anzukurbeln, ist fraglich. Daher könnte die EZB versuchen, frisches Geld auf direktem Wege in die Wirtschaft zu pumpen. Dazu könnte sie Wertpapiere von Nichtbanken kaufen. Die Banken schreiben den Verkäufern den Erlös auf deren Konten gut. So entsteht zusätzliches Geld. Die wachsende Geldmenge könnte als Nebeneffekt den Euro auf Talfahrt schicken. Das verteuerte die Importe und kurbelte die Inflation an. Das Problem ist nur: Durch Wertpapierkäufe drückte die EZB die Zinsen weiter nach unten und löste einen neuen Boom mit Fehlinvestitionen aus. Die Wirtschaft taumelte von einem Boom-Bust-Zyklus zum nächsten.

Um dies zu vermeiden, müsste das Geldsystem auf eine neue Basis gestellt werden. Geld müsste wieder werden, was es ursprünglich war: ein durch Gold oder andere Edelmetalle gedecktes Tauschmittel. Banken könnten Kredite nur vergeben, wenn diese durch entsprechende Ersparnisse gedeckt sind. Ein zu 100 Prozent real gedecktes Geld kann sich – anders als das Buchgeld im Papiergeldsystem – nicht in Luft auflösen. Eine Deflation durch Kreditkontraktion kann es dann nicht mehr geben. „In einem vollgedeckten Warengeldstandard ist Preisdeflation vollkommen harmlos und das Symptom eines starken Wirtschaftswachstums oder einer erfolgreichen Kassenbildung“, sagt Ökonom Bagus.

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