Das neue Jahr hätte für EZB-Chefin Christine Lagarde kaum schlechter beginnen können. Erst veröffentlicht das Statistische Amt der Europäischen Union, Eurostat, einen Tag vor dem Treffen der EZB-Notenbanker die Euro-Inflationsrate für Januar, die mit 5,1 Prozent selbst für hartgesottene Analysten einen „Schocker“ darstellt. Zumal sie gegenüber Dezember (5,0 Prozent) eine Beschleunigung der Inflation darstellt. Lagarde hatte immer wieder betont, die Teuerungsrate werde zu Beginn dieses Jahres sinken.
Dann beschließen auch noch die zur gleichen Zeit wie die EZB tagenden Währungshüter der Bank von England, den Leitzins im Vereinigten Königreich um 25 Basispunkte auf nunmehr 0,5 Prozent zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen. Außerdem schmilzt die Bank von England ihre Bilanz ab, indem sie ab sofort auslaufende Wertpapiere nicht mehr durch den Erwerb neuer Papiere ersetzt. Den Bestand an Unternehmensanleihen in ihrer Bilanz wollen die britischen Notenbanker bis Ende 2023 durch aktive Verkäufe auf null zurückfahren.
Daher standen die Notenbanker der EZB bei ihrem heutigen Treffen unter massivem Druck. Wer jedoch erwartet hat, dass sie ihren Kollegen in London folgen und den Kampf gegen die voranschreitende Geldentwertung entschlossen aufnehmen, wurde enttäuscht. Die EZB lasse sich nicht von Daten oder Entscheidungen anderer Notenbanken treiben, erklärte Lagarde auf der Pressekonferenz.
Noch keine Zweitrundeneffekte
Und so bleibt geldpolitisch vorerst alles beim Alten: Die Leitzinsen verharren da, wo sie sind; die Netto-Anleihekäufe des Pandemie-Notfallprogramms PEPP laufen Ende März aus, können aber im Fall einer Krise wieder aufgenommen werden. Zudem werden auslaufende Papiere bis Ende 2024 durch den Kauf neuer Papiere ersetzt, die die EZB flexibel nach Laufzeiten, Anlageklassen und Emittenten auswählt. Von einer Bilanzschrumpfung, wie sie die Bank von England angekündigt hat und wie sie die US-Notenbank Fed für den weiteren Verlauf des Jahres anvisiert, ist bei der EZB weit und breit nichts zu sehen und zu hören.
Gleichwohl scheinen die jüngsten Daten von der Inflationsfront nicht ohne Eindruck auf die EZB geblieben zu sein. Die Preise stiegen stärker und auf breiterer Basis als erwartet, konzedierte Lagarde. Erst in der zweiten Jahreshälfte dürften sich die Teuerungsraten daher wieder zurückbilden, so die EZB-Chefin. Der EZB-Rat mache sich daher Sorgen um die Preisstabilität.
Dass die EZB ihr geldpolitisches Waffenarsenal dennoch nicht anrührte, begründete Lagarde damit, dass es derzeit noch keine Zweitrundeneffekte in der Eurozone gebe. Zwar befinde sich die Arbeitslosigkeit auf dem alten Kontinent auf einem Rekordtief, doch anders als in den USA und in Großbritannien seien die Löhne noch nicht stark ins Laufen gekommen. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale sei daher nicht gegeben.
Inflation ist ein monetäres Phänomen
Tatsächlich legen die Löhne in der Eurozone mit rund zwei Prozent derzeit nur halb so schnell zu wie in den USA und in Großbritannien. Das Problem ist nur: Wer mit der Straffung der Geldpolitik wartet, bis sich die Lohn-Preis-Spirale munter dreht, spielt mit dem Feuer. Einmal in Gang gekommen, ist eine solche Spirale nur durch ein brachiales Bremsmanöver der Notenbank zu stoppen, das schnurstracks in die Stabilisierungsrezession führt.
Zudem ist es eine Mär zu glauben, die Preise könnten nur dann nachhaltig steigen, wenn sie durch eine Lohn-Preis-Spirale wie durch eine Hydraulik nach oben gekurbelt werden. Inflation ist ein monetäres Phänomen. Die gemessen an der Güterproduktion überreichliche Geldversorgung der Eurozone (und der übrigen Industrieländer) seit Beginn der Pandemie hat ein enormes Inflationspotenzial geschaffen, das sich nun über eine steigende Nachfrage nach Waren, Rohstoffen, Immobilien und Dienstleistungen entlädt und deren Preise treibt. Ziehen demnächst auch noch die Inflationserwartungen an, wird sich der Run auf die Sachwerte und damit die Entwertung des Geldes beschleunigen. Im schlimmsten Fall droht eine Flucht aus dem Papiergeld.
Die EZB muss daher ihre Komfortzone verlassen und der Inflation den Kampf ansagen, ehe es zu spät ist. Lagarde scheint das zumindest zu ahnen. So relativierte sie auf der Pressekonferenz ihre Aussage vom Dezember, in diesem Jahr werde es keine Zinserhöhungen geben. Die Aussage sei unter den damaligen Bedingungen erfolgt, so Lagarde. Mittlerweile hätte sich die Datenlage geändert, daher müsse man neu nachdenken.
In diesem Zusammenhang verwies sie auf die Sitzung des EZB-Rats im März, bei der die EZB-Ökonomen neue Inflationsprognosen vorlegen werden. Sollten diese höher ausfallen als bisher, öffnet sich die Tür für höhere Leitzinsen in diesem Jahr. An den Finanzmärkten rechnen Analysten bereits mit zwei Zinserhöhungen von jeweils 25 Basispunkte in der zweiten Jahreshälfte.
Dass die EZB nicht schneller handelt, obwohl dies geboten wäre, liegt daran, dass sie sich kommunikationspolitisch eingemauert hat. Sie hat versprochen, zunächst alle Anleihekäufe netto einzustellen, bevor sie die Leitzinsen erhöht. Weil das APP-Kaufprogramm bis einschließlich dem vierten Quartal dauern soll, wird es demgemäß nichts mit höheren Leitzinsen in diesem Jahr.
Die Forward-Guidance hat sich als Falle erwiesen
Die EZB wird deshalb die Käufe im Rahmen des APP-Programms schneller beenden müssen, will sie die Leitzinsen noch in diesem Jahr anheben. Langfristig niedrige Leitzinsen zu versprechen und gleichzeitig geldpolitisch auf die Tube zu drücken, so zeigt sich jetzt, ist eine schlechte Idee. Diese als Forward-Guidance bezeichnete Strategie der EZB ist in die Hose gegangen.
Dass ein oder zwei Zinsschritte in diesem Jahr den Beginn eines steilen Zinserhöhungspfades markieren, darf eingedenk der hohen Schulden der Regierungen in der Eurozone als unwahrscheinlich gelten. Die Entschuldung der Staaten und der Erhalt der dysfunktionalen Währungsunion durch negative Realzinsen dürften der EZB wichtiger sein als das Interesse der Geldnutzer an einer stabilen Kaufkraft des Euros. Wäre es anders, hätte die EZB heute gehandelt, statt nur zu reden.
Mehr zum Thema: Während die US-Notenbank die Märkte mit einer klaren Strategie auf höhere Leitzinsen vorbereitet, redet die EZB die Inflationsrisiken klein. Sie verunsichert Börsen und Bürger. Und setzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel.