OECD-Umfrage Die Deutschen wollen mehr Sozialstaat

Demonstration der Sammlungsbewegung

Angst vor zu wenig Rente und Krankheiten: Die Deutschen und fast alle anderen wohlhabenden, westlichen Nationen wünschen sich einen noch aktiveren Sozialstaat, wie eine OECD-Studie zeigt.

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Politiker, die den Ausbau des Sozialstaats forcieren, können mit großem Rückhalt in der Bevölkerung rechnen - in fast allen entwickelten Ländern. In Deutschland ist der Anteil derjenigen Menschen mit mehr als drei Vierteln sogar überdurchschnittlich hoch, die sich wünschen, dass die Regierung „mehr“ dafür tut, „die wirtschaftliche und gesellschaftliche Sicherheit zu gewährleisten“.

Das ist das Ergebnis der repräsentativen Umfrage „Risks that Matter“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter 22.000 Menschen in 21 Mitgliedsländern. In 19 dieser Länder wünschten sich mehr als die Hälfte der Befragten, das die Regierungen „mehr tun“ sollen. Nur in Frankreich und Dänemark mit ihren traditionell freigiebigen sozialen Sicherungssystemen sind Mehrheiten zufrieden oder gleichgültig.  

Für die Deutschen sind Krankheit und Behinderung kurzfristig gesehen die größte Sorgen, für die sie sich Linderung vom Staat wünschen. 51 Prozent der befragten Deutschen nannten dies als eine ihrer drei Hauptsorgen für die nächsten Jahre, gefolgt von Kriminalität und Gewalt (47 Prozent) und generell „finanziellen Schwierigkeiten“ (43 Prozent). Auf längere Sicht ist ihre Rente die Hauptsorge der Deutschen. 76 Prozent der Befragten nennen die „finanzielle Situation im Alter“ als eines der drei Hauptrisiken. Dafür wären 45 Prozent von ihnen bereit, zusätzlich zwei Prozent ihres Einkommens an den Staat abzutreten, um hierdurch höhere Rentenleistungen zu erhalten. Im OECD-Schnitt sind es nur 38 Prozent.

Noch beliebter als in dem meisten anderen OECD-Ländern ist in Deutschland auch eine höhere Besteuerung von „Reichen“ (eine Definition der Reichen fehlt allerdings wohlgemerkt in der Fragestellung der Studie!), „um ärmere Bevölkerungsgruppen besser unterstützen zu können.“ 77 Prozent der Deutschen befürworten das, nur die Portugiesen (80 Prozent) und Griechen (79 Prozent) übertreffen sie in diesem Wunsch. Im OECD-Schnitt ist es fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit von etwa 65 Prozent. Am schwächsten - wenn auch immer noch in der absoluten Mehrheit - sind die Anhänger der höheren Steuern für „Reiche“ in Estland (52 Prozent) und Polen (55 Prozent).

Große Unzufriedenheit mit dem Sozialstaat

Die Autoren der Studie halten viele ihrer Ergebnisse für „zutiefst beunruhigend“. Die OECD-Länder gehören zu den wohlhabendsten der Welt. Sie geben im Schnitt rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Sozialpolitik aus – in Deutschland beträgt diese so genannte Sozialleistungsquote nach OECD-Statistik 25,1 Prozent, nach den Daten des Statistischen Bundesamtes knapp 30 Prozent. Es sei zwar offensichtlich, dass dies dazu führe, dass die Menschen sicherer, gesünder und länger lebten. Dennoch zeige die Umfrage, „dass viele Menschen das nicht so sehen“, heißt es im Vorwort von Stefano Scarpetta, dem Direktor für Arbeits- und Sozialangelegenheiten der OECD. Es gebe eine „klare Unzufriedenheit mit der existierenden Sozialpolitik“. In fast allen untersuchten Ländern glauben viele Befragte, dass öffentliche Dienstleistungen und Angebote unangemessen sowie schwer zu erhalten sind. Scarpetta sieht die Studie daher als „Weckruf für Politiker“.

Besonders besorgniserregend sei, dass die bestehenden Systeme als ungerecht wahrgenommen würden. „Viele Leute glauben, dass die gegenwärtige Sozialpolitik unangemessen, unfair und ungerecht ist“, heißt es in der Studie. Mehr als die Hälfte der Befragten in allen 21 Ländern finden, dass sie nicht ihren verdienten Anteil an den staatlichen Leistungen bekämen angesichts der Steuern, die sie zahlen.  Im Schnitt glauben zwei Drittel der Befragten, dass andererseits andere Menschen mehr erhielten, als ihnen zustehe. Dieses Empfinden der Ungerechtigkeit ist offenbar geringer in Ländern, die tendenziell mehr Geld über den Sozialstaat umverteilen.

Die allgemeine Unzufriedenheit wird vor allem in den Antworten auf eine Frage deutlich. Nur 18 Prozent der Deutschen stimmen diesem Satz zu: „Bei der Einführung und Anpassung öffentlicher Leistungszahlungen zieht die Regierung die Meinung von Leuten wie mir in Betracht.“ In den anderen Ländern sind es im Schnitt rund 40 Prozent. Die mangelnde Zustimmung macht offenbar auf ein sehr weit verbreitetes und tiefsitzendes Empfinden mangelnder Repräsentation aufmerksam. Und dies in OECD-Staaten, die durchweg liberale Demokratien sind. Da es sich um große Mehrheiten in all diesen Staaten handelt, kann man die Diagnose der Unzufriedenheit auch kaum nur auf die „Zurückgelassenen“ oder „Globalisierungsverlierer“ beschränken, wie die Autoren betonen.  

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von Ferdinand Knauß

Das Einkommen selbst scheint keine entscheidende Rolle für die Zufriedenheit mit dem Sozialstaat zu spielen. In vielen Fällen war kein Unterschied zwischen den Antworten von Befragten mit hohem oder geringem Einkommen feststellbar. Auch in der wachsenden Gruppe der Nicht-Festangestellten („Non-standard workers“) ist die Unzufriedenheit nicht ausgeprägter als bei Festangestellten. Die Unzufriedenheit war aber bei denen besonders hoch, so Scarpetta, die angaben, dass sich ihre ökonomische Situation in den zurückliegenden Monaten verschlechtert habe. „Eines der wichtigsten Ziele von Sozialpolitik ist, Menschen vor den negativen Folgen von Einkommens-Schocks zu schützen, doch die Umfrage zeigt, dass viele von denen, die einen Einkommensrückgang erleiden, nicht glauben, dass die Sozialpolitik dieses Ziel erreicht.“

Viel Staat macht mal mehr, mal weniger unzufrieden

Die Ergebnisse legen zwar im Großen und Ganzen nahe, dass die Bürger von Staaten mit hohen Sozialleistungen eher zufrieden sind. Allerdings ist dies nicht generalisierbar. Wie die Autoren einräumen, sei es „wahrscheinlich, dass andere Faktoren, besonders gesellschaftliche und kulturelle Werte, eine Rolle spielen sowohl bei der Festlegung der Sozialpolitik als auch bei den Gefühlen der Ungerechtigkeit“.

Deutschland etwa gehört mit einer Sozialleistungsquote von rund 30 Prozent zu den generösesten Sozialstaaten, aber seine Bürger sind überdurchschnittlich unzufrieden. Im Schnitt der 21 Länder stimmen nur etwa 20 Prozent der Aussage zu: „Ich glaube, ich könnte leicht öffentliche Leistungen erhalten, wenn ich sie bräuchte.“ Aber die Zustimmung in den USA ist mit 33 Prozent deutlich höher als in Deutschland (22 Prozent), obwohl der amerikanische Sozialstaat (Sozialleistungsquote von 18,7 Prozent des BIP) bekanntlich sehr viel weniger großzügig eingerichtet ist als der deutsche. 

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