
Gerade für einen Ökonomen, der sich oft mit dem Verhältnis zwischen Inflation und Veränderungen der Geldmenge beschäftigt hat, bedarf die derzeit überraschend niedrige Inflationsrate in den USA einer Erklärung. Gilt etwa die alte Regel nicht mehr, dass ein schnelleres Wachstum der Geldmenge zu mehr Inflation führt oder zumindest von stärkerer Inflation begleitet wird? Und umgekehrt, dass eine Verlangsamung des Geldmengenwachstums mit weniger Inflation einhergeht, wobei Geldmenge hier die Summe des umlaufenden Geldes plus der Guthaben der Geschäftsbanken bei der Notenbank bedeutet?
Für die Vergangenheit stimmt das jedenfalls. In den USA kletterte die Geldmenge zum Beispiel zwischen 1985 und 1995 im Jahresdurchschnitt um neun Prozent; in den darauf folgenden zehn Jahren sank dieser Durchschnittswert auf sechs Prozent. Dem nachlassenden Wachstum der Geldmenge entsprach ein Rückgang des Inflationstempos. Der Verbraucherpreisindex CPI stieg von 1985 bis 1995 im Jahresdurchschnitt um 3,5 Prozent und danach bis 2005 nur noch um durchschnittlich 2,5 Prozent.
Die wichtigsten Fakten zur niedrigen Inflation
Autofahrer können sich ebenso freuen wie alle, die Haus oder Wohnung heizen müssen: Die Sprit- und Energiepreise liegen seit Monaten unter dem Vorjahresniveau. Auch der starke Euro trägt dazu bei, dass Tanken und Heizen günstiger wird: Die Euro-Stärke verbilligt die in Dollar abgerechneten Rohölimporte. Niedrige Inflation ist also in diesem Fall gut fürs Portemonnaie: Verbraucher bekommen mehr für ihr Geld. Allerdings liegt selbst die derzeit sehr niedrige Inflationsrate in Deutschland noch über den Zinsen, die aktuell auf den meisten Sparbüchern oder Tagesgeldkonten zu verdienen sind. Ersparnisse verlieren also unter dem Strich an Wert. Allerdings wären die Einbußen für Sparer noch größer, wenn die Inflation höher läge.
Das Problem ist, wie Verbraucher und Unternehmen die künftige Entwicklung des Preisniveaus einschätzen. Wer weiter sinkende Preise erwartet, verschiebt vielleicht den Kauf der neuen Waschmaschine oder die Investition in die neue Fabrikhalle - denn es kann ja eigentlich nur günstiger werden. Das könnte eine gefährliche Abwärtsspirale in Gang setzen: Unternehmen machen weniger Gewinn, Mitarbeiter werden entlassen. Diese können sich dann weniger leisten und der Druck, Preise weiter zu senken, nimmt zu. Diese Verkettung lähmt die Konjunktur. In der Folge sinken auch die Steuereinnahmen und die Belastungen durch Schulden und Sozialleistungen nehmen zu.
70 Prozent des Inflationsrückgangs im Euroraum, so hat es kürzlich EZB-Präsident Mario Draghi vorgerechnet, gehen auf das Konto gesunkener Energie- und Lebensmittelpreise. Dass das Preisniveau in Deutschland noch höher ist als in vielen anderen Eurostaaten liegt daran, dass in Ländern wie Griechenland, Spanien und Co. Unternehmen Preise senken müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Zudem müssen Regierungen sparen, um hohe Schuldenberge abzutragen. In Deutschland ist die Konjunktur hingegen relativ robust. Das schafft Raum für Investitionen und Lohnerhöhungen.
Darüber gehen die Meinungen auseinander. So warnt das DIW vor der Gefahr „einer sich selbst verstärkenden Deflationsspirale“ bei langanhaltend niedrigen Inflationsraten. DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert ein Eingreifen der Europäischen Zentralbank. Im „Focus“ schreibt er: „Ohne ein beherztes Eingreifen der EZB sehe ich schwarz.“ Europas Währungshüter rechnen zwar mit einer niedrigen Inflationsrate in diesem und im kommenden Jahr, Deflationsrisiken sehen sie aber nicht.
Draghi hat klargestellt, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, sollte die Teuerungsrate überraschenderweise weiter sinken. Die Notenbank prüfe auch weitere unkonventionelle Maßnahmen, darunter ein Programm zum Anleihekauf („Quantitative Lockerung/QE). „Ob die EZB noch einmal die Zinsen senkt, oder gleich ein breit angelegtes Anleihenkaufprogramm beschließt, würde wohl davon abhängen, wie stark sie ihren mittelfristigen Inflationsausblick nach unten korrigiert“, glaubt Commerzbank-Ökonom Christoph Weil.
Die EZB erwartet, dass die Inflationsrate schon im April wieder etwas anziehen wird. Volkswirt Weil erklärt, warum: Der übliche Anstieg der Preise für Reisen und Hotelübernachtungen rund um Ostern fällt in diesem Jahr in den April und nicht wie 2013 in den März. Zudem dürften die Energiepreise im April anders als im Vorjahr nicht sinken. Hierfür sprechen nach Weils Einschätzung etwa die tendenziell höheren Benzinpreise während der Osterferien. Insgesamt erwartet die Commerzbank, dass die Inflation im Euroraum in den kommenden Monaten um 0,8 Prozent pendeln wird.
Vorerst ja, allerdings stiegen die Preise für Nahrungsmittel in Deutschland zuletzt nicht mehr so rasant wie in den vergangenen Monaten. Da wegen des milden Wetters früher frisches Obst und Gemüse zu haben ist, dürfte der saisonübliche Preisrückgang für diese Waren in diesem Jahr früher einsetzen. 2013 hatte das kalte Frühjahr die Ernte verzögert. Sinkende Preise für Lebensmittel freuen die Verbraucher, sie können allerdings die Inflation insgesamt wieder etwas drücken.
Dann aber war es mit dem Konnex zwischen Geldmenge und Inflation vorbei. Von 2005 bis 2015 nahm die Geldmenge gewaltig zu – im Jahresdurchschnitt um 17,8 Prozent. Und der Verbraucherpreisindex? Wuchs um durchschnittlich 1,9 Prozent pro Jahr – nicht mehr. Wenn wir diesen gewaltigen Wandel erklären wollen, müssen wir uns das Wechselverhältnis zwischen Geldmenge und Geldentwertung ansehen und uns mit der veränderten Funktion der Guthaben der Geschäftsbanken bei der Notenbank Fed beschäftigen.
Worum geht es? Wenn eine Geschäftsbank einen Kredit gewährt, schafft sie ein Guthaben für den Kreditnehmer, der dieses Geld entnehmen und damit etwas kaufen kann. Dieser Vorgang führt meistens dazu, dass das Geld transferiert wird, von der den Kredit vergebenden Bank an einer andere.
Die Geschäftsbanken sind gesetzlich verpflichtet, Guthaben bei der Notenbank zu unterhalten, und zwar in einem proportionalen Verhältnis zu den einlösbaren Einlagen in ihren Büchern. Demnach folgt aus höheren Guthaben bei der Notenbank, dass die Geschäftsbanken mehr oder höhere Kredite vergeben können. Die Kreditnehmer können dann mehr Geld ausgeben. Solche zusätzlichen Ausgaben führen zu mehr Beschäftigung, höherer Auslastung des Kapitalstocks und schließlich zu einem Aufwärtsdruck auf Löhne und Preise.
Wer von der Mini-Inflation profitiert - und wer nicht
Wer längerfristig gleichbleibende Einkommen wie Tarifgehälter, Renten oder Sozialleistungen bezieht, kann sich mehr für sein Geld leisten, wenn Preise kaum noch oder gar nicht mehr steigen. Das gilt auch für Menschen, die viel Geld auf der hohen Kante haben. Gleichzeitig bleibt bei Einkommens- und Lohnerhöhungen real - also nach Abzug der Teuerung - deutlich mehr Geld in den Taschen der Verbraucher, wenn die Inflation wie derzeit nahe null ist.
Wenn die Verbraucher mehr Geld zur Verfügung haben, etwa weil die Sprit- und Heizölpreise fallen, können sie sich mehr andere Waren leisten. Gleichzeitig profitieren Unternehmen von niedrigeren Einkaufspreisen wichtige Rohstoffe wie Öl: Ihre Kosten sinken.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins im Kampf gegen den mickrigen Preisauftrieb auf fast null Prozent gesenkt. Das drückt die Zinsen, die Banken von Privatleuten und Unternehmen für Kredite verlangen. So kommen etwa Immobilienkäufer derzeit so günstig wie nie an Geld. Nach Zahlen der FMH Finanzberatung sind Hypotheken mit zehn Jahren Laufzeit aktuell im Schnitt für 1,6 Prozent Zinsen zu haben. Vor einem Jahr lag das Niveau demnach noch bei 2,67 Prozent, vor fünf Jahren bei 4,19 Prozent. Auch Staaten können sich am Markt günstiger frisches Geld besorgen, das entlastet indirekt die Steuerzahler.
Vor allem die rasante Talfahrt der Ölpreise schiebt die deutsche Wirtschaft an. Nach Einschätzung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) werden Unternehmen und Verbraucher in diesem Jahr um 20 Milliarden Euro entlastet, wenn die Preise auf dem aktuellen Niveau verharren. Auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hat betont: „Diese Entwicklung wirkt ähnlich wie ein kleines Konjunkturprogramm.“
Verbraucher sind nicht nur Kreditnehmer, sondern auch Sparer. Durch das magere Zinsniveau ist mit Tagesgeld oder Sparkonto fast nichts mehr zu verdienen. Immerhin: Weil die Preise kaum steigen, unterscheiden sich nominale Renditen kaum noch von den realen. Wer fürs Alter vorsorgen will, muss entweder mehr Geld zurücklegen oder größere Risiken eingehen.
Was für die Kreditaufnahme gut ist, ist für ältere Verbindlichkeiten schlecht: Derzeit knabbert die Inflation die ausstehenden Schulden nämlich nicht weg. Das erschwert den Schuldenabbau und hemmt die wirtschaftliche Erholung, wie EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio betont: „Wenn die Inflation sehr niedrig ist und das Wachstum ebenfalls, dann wird es immer schwieriger, diese Schulden zu bedienen.“
Die EZB sieht Preisstabilität bei einer Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent. Davon abrücken will die Notenbank nicht, wie Constâncio sagte: „Bei einem Inflationsziel von null Prozent ist die Gefahr hoch, dass die Wirtschaft in eine Deflation rutscht.“ Unter einer Deflation verstehen Ökonomen einen Teufelskreis aus sinkenden Preisen, steigenden Reallöhnen, niedrigeren Gewinnen und schrumpfender Nachfrage, weil Verbraucher und Unternehmen Anschaffungen und Investitionen aufschieben. Denn es könnte ja bald noch billiger werden. Die geringe Nachfrage kann weitere Preissenkungen zur Folge haben: Die Wirtschaft friert ein.
Bis vor ein paar Jahren war es so, dass die Fed sich so genannter Offenmarkt-Geschäfte bediente, um die Einlagen der Handelsbanken zu erhöhen: Sie kaufte ihnen amerikanische Staatsanleihen ab. Das hieß: Die Geschäftsbanken tauschten staatliche Papiere mit fester Verzinsung gegen Guthaben bei der Fed, die früher keinen Zins abwarfen. Das war für die Geschäftsbanken nur sinnvoll, wenn sie gestützt auf diese Guthaben mehr Geld an Kunden ausliehen. Falls eine einzelne Bank dafür keinen Bedarf oder keine Möglichkeit hatte, konnte sie das Guthaben an eine andere Bank verleihen und dafür Zinsen zum Zinssatz der Fed für so genannte Interbankenkredite kassieren. Weil es diese Möglichkeit gab, sorgten am Ende fast alle Einlagen bei der Fed zur Ankurbelung der Bankkredite an die reale Wirtschaft.
2008 änderte sich das völlig: Ein neues Gesetz erlaubte der Fed, Zinsen auf Einlagen über einem Mindestmaß zu zahlen. Seitdem kann eine Geschäftsbank der Fed Treasury Bills und langlaufende Zinspapiere verkaufen, um dafür ihre Einlagen bei der Fed zu erhöhen, wofür sie eine kleine, aber sehr sichere Verzinsung erhält.