Preismessung Die sonderbare Corona-Inflation

Wie teuer ist das Leben in Corona-Zeiten? Der Bedarf an einer möglichst genauen Messung der Lebenshaltungskosten ist gerade während der Pandemie groß. Nicht nur die Bürger, auch die Zentralbanken wollen wissen, wie sich die Inflation entwickelt. Doch den Statistiker fällt Preiserhebung schwerer als sonst.   Quelle: dpa

Preiserhebungen im Einzelhandel sind ein wichtiges Instrument zur Messung der Inflation. Doch in Zeiten des Lockdowns funktioniert die Methode nicht. Die Statistiker müssen deshalb auf Alternativen ausweichen.

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In Deutschlands Fußgängerzonen herrscht in diesen Tagen gähnende Leere. Nachdem Restaurants, Museen und Gaststätten wegen der Coronapandemie ihre Pforten bereits vor Wochen schließen mussten, hat es nun auch die Einzelhändler erwischt. Das hat Konsequenzen für eine Berufsgruppe, die mit dem Einzelhandel an sich wenig zu tun hat: Die Preiserheber der statistischen Ämter. Diese schwirren in normalen Zeiten regelmäßig aus, um die Preise für Herrenhosen, Bettwäsche, Bücher und andere Waren vor Ort in den Geschäften zu ermitteln. 

Mehr als 300.000 Einzelpreise werden auf diese Weise erhoben. Anschließend werden sie mit den Preisen anderer Güter, etwa denen für Strom, Gas, Wasser und Mietwohnungen zum Verbraucherpreisindex zusammengefasst. Dieser misst die Kosten der Lebenshaltung. Im November lagen sie um 0,3 Prozent niedriger als vor einem Jahr. 

Doch wie lassen sich die Preise messen, wenn Läden geschlossen, Museen verriegelt und Kinos stillgelegt sind? Wenn Produkte in den Supermärkten und Drogerien, die noch öffnen dürfen, aufgrund der hohen Nachfrage vergriffen sind?  Wenn Hausbesitzer ihren Mietern wegen Corona Nachlässe bei den Mieten, Kindergärten mit eingeschränktem Betrieb den Eltern einen Teil der Kita-Gebühren erstatten? 

Dazu kommt, dass sich manche Produkte und Dienstleistungen mit denen vor der Coronakrise qualitativ kaum vergleichen lassen. So bieten Gaststätten ihren Kunden Gerichte zum Mitnehmen an, die sonst am Tisch serviert werden. Ein Preisvergleich mit der Vor-Corona-Zeit würde hier in die Irre führen, da er den Qualitätsunterschied durch das Fehlen der Bedienung ausklammert. 



Da Informationen über die Preisentwicklung wichtig für das wirtschaftliche Handeln von Bürgern, Unternehmen und Zentralbanken sind, versuchen die Statistiker, sich mit Hilfe alternativer Methoden einen Überblick über den Preistrend zu verschaffen. Und weil aktuell alle Länder Europas mit den gleichen Problemen konfrontiert sind, haben sich die Statistiker länderübergreifend auf ein einheitliches Vorgehen geeinigt. Dadurch sollen die Preise grenzüberschreitend vergleichbar bleiben.

Preissuche im Internet 

Zunächst prüfen die Statistiker, ob die fehlenden Preise anders als durch die Erhebung vor Ort ermittelt werden können. Eine gute Alternative zur stationären Erfassung sind die Preise im Online-Handel. Mittels automatisierter Verfahren (Web Scraping) durchforsten die Statistiker dazu die großen Handelsplattformen und die Webseiten von Händlern. Auch telefonische Anfragen, Prospekte sowie die Analyse von Scannerdaten bieten sich als Datenquellen an. 

Allerdings können internetbasierte Verfahren die Preiserhebung vor Ort nicht vollständig ersetzen. Viele Einzelhändler und Handelsketten bieten nicht ihr gesamtes Produktsortiment im Netz an. Zudem unterscheiden sich bei manchen Händlern die Online-Preise von denen im Shop vor Ort. 

Lassen sich die Preise durch Web Scraping nicht verlässlich ermitteln, kommen Imputationsverfahren zum Einsatz. Dabei handelt es sich um Setzungen durch die Statistiker, bei denen sie sich an typischen Verlaufsmustern der Warenpreise in der Vergangenheit orientieren. Güter, deren Preise sich nur selten ändern, etwa die Eintrittspreise für Museen und Sportveranstaltungen, sind am einfachsten zu handhaben. Hier schreiben die Statistiker den zuletzt ermittelten Preis fort. Sie unterstellen also, dass er sich im Berichtszeitraum nicht verändert hat. 


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Bei Gütern, deren Preise saisonabhängig stark schwanken, werden die Saisonmuster der Vergangenheit herangezogen. Haben sich etwa Pauschalreisen in den Vorjahren in den Sommermonaten stark verteuert, werden diese Zuwachsraten auch auf den Berichtszeitraum angewendet.

Fiel ein Produkt in der Vergangenheit weder durch einen stabilen noch stark schwankenden  Preis auf, schreiben die Statistiker die Entwicklung anhand von ähnlichen Produkten, deren Preis vor Ort erhoben werden kann, fort. Beispielsweise lässt sich der Preis für Damensocken in Bekleidungsgeschäften, die wegen des Lockdowns schließen müssen, durch die Preisentwicklung von Socken in Supermärkten, die öffnen dürfen, fortschreiben.

Je stärker der Lockdown, desto mehr Setzungen

Bereits beim ersten Lockdown im Frühjahr hatten die Statistiker die Methode der Imputation angewendet. Im April, auf dem Höhepunkt des Lockdowns, beruhten 27 Prozent der Preise im Verbraucherpreisindex auf Setzungen. Mit der Öffnung der Geschäfte im Mai sank die Imputationsquote auf knapp 13 Prozent, im Juni ging sie weiter herunter auf 7,5 Prozent. 

In anderen Ländern griffen die Statistiker in noch größerem Umfang auf Setzungen zurück. In Spanien, Italien und Frankreich, wo die Wirtschaft stärker und länger heruntergefahren wurde als hierzulande, beruhten im April zwischen 37 und 47 Prozent aller im Warenkorb enthaltenen Preise auf Setzungen. Nur Schweden, das auf einen umfassenden Lockdown verzichtete, konnte Deutschland in puncto Genauigkeit bei der Preiserhebung schlagen. In dem skandinavischen Land mussten die Statistiker nur drei Prozent aller Preise mittels Imputation ermitteln.

Mehr zum Thema: Nicht unbegründet warnen Berichte und Analysen vor der Inflation in der EWU in den nächsten drei Jahren. Ein Auslöser könnte der aufgebaute Geldüberhang sein.

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