Die Verantwortlichkeit ist nicht mehr zurechenbar.
Richtig. Vor allen Dingen: Man weiß nicht mehr auf den ersten Blick, wer eigentlich handelt in dieser byzantinischen Struktur von Haupt-, Tochter-, Enkel- und Urenkelgesellschaften.
Was war der Grund für die Entmachtung der natürlichen durch die juristische Person?
Nicht zuletzt die Möglichkeit, mit relativ wenig Kapital sehr großen Einfluss entwickeln zu können, denn sie brauchen in der Regel nur die Hälfte des stimmberechtigten Kapitals an einem Unternehmen, um es beherrschen zu können. Und die Kapitalgesellschaft, die man unter Kontrolle gebracht hat, braucht ihrerseits wieder nur 50 Prozent, wenn sie andere erwirbt. Am Beispiel der New Yorker Verkehrsgesellschaften um 1900 kann man zeigen, wie innerhalb kurzer Zeit auf diese Weise etliche Unternehmen erworben werden, die weiterhin rechtlich selbstständig bleiben, auch wenn ein anderer, der Mehrheitsgesellschafter, die unternehmerischen Entscheidungen fällt. Nach außen hin wird das überhaupt nicht sichtbar, was natürlich von Vorteil sein kann. So machen es heute auch ausländische Investoren, wenn sie in Deutschland auf Einkaufstour gehen. Das Unternehmen bleibt nach außen intakt, mit Markennamen und Image, aber der eigentliche Akteur sitzt jetzt in Peking oder Dubai.
Sie beschreiben diese Verschleierung als Coup: Keine technische Innovation, sagen Sie, habe clevere, auch kriminelle Geschäftsleute zu Beginn des 20. Jahrhunderts so schnell so reich machen können wie die „Corporate Revolution“.
Richtig, erst auf ihrer Grundlage war es möglich, Kapital in großem Stil zu akkumulieren, zu investieren – und abzuschöpfen. Das ist elementar für die moderne Wirtschaft, auch für die Entwicklung von Infrastrukturprojekten wie der Eisenbahn oder für das weltweite Agieren von Unternehmen. Das mit den Konzernverschachtelungen einhergehende Unsichtbar-Werden von Macht führt eben nicht nur zu großem Wohlstand, sondern unter Umständen auch zu Manipulationen und Betrügereien: Man lädt das Publikum ein, in Gesellschaften zu investieren, aus denen das Kapital hernach abgezogen wird, um es in die eigene Tasche zu leiten.
Hier kommt die Visualisierung ins Spiel: Die Kritik am korporativen Kapitalismus wird in das Sinnbild des Konzernkraken übersetzt. Weshalb hat das so gut funktioniert?
Weil Bild und Wirklichkeit einander so ähnlich sind. Bestimmte Merkmale seiner Anatomie und seines Verhaltens haben den Kraken zur emblematischen Figur des Kapitalismus prädestiniert. Das gilt für seine erstaunliche Beweglichkeit: Er kann sich dehnen und schrumpfen. Aber auch für seine Anpassungsfähigkeit: Er kann sich tarnen, kann sich dem Blick entziehen. Wobei das Zentrum der Handlung, das Gehirn, immer in der Mitte ist. Die eigentlichen Handlungen vollziehen sich über die Greifarme, weit entfernt vom Zentrum. Die Analogie zu Konzernstrukturen ist schlagend: Es gibt eine Muttergesellschaft, die über ihren Einfluss auf Tochtergesellschaften an ganz anderer Stelle, in weiter Ferne handelt, ohne als Zentrum erkennbar zu sein.
Spielt auch eine Rolle, dass der Krake diffuse Ängste mobilisiert?
Unbedingt, seit dem 19. Jahrhundert gilt er als Inkarnation des Bösen. Seine Karriere korrespondiert mit dem Aufstieg des Marxismus-Leninismus und des Nationalsozialismus, der zum Teil eine stark antikapitalistische Stoßrichtung hat. Beide sind Anti-Kraken-Parteien. Ebenso wie der Progressivismus um Theodore Roosevelt, den ersten „modernen“ Präsidenten der USA.
Was die Menschen vom Kapitalismus halten
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 16 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 75 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 8 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 6 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 47 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 43 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 59 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 56 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 13 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 57 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 19 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 25 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 53 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 13 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 11 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 58 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 18 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 12 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 44 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 23 Prozent
Und zu den Fußtruppen der antikapitalistischen Politik gehören die Journalisten...
...die den Kampf aufnehmen mit dem Kraken. Das ist damals eine Riesenherausforderung für den Wirtschaftsjournalismus in den USA: diese neuen, hochkomplexen Phänomene so darzustellen, dass die Leser sich dafür interessieren. Den Cartoonisten fällt das leicht. Der Krake wird zu ihrem Favoriten, wenn es darum geht, die Staat und Gesellschaft unterlaufende Macht der Konzerne ins Bild zu setzen. Die Visualisierung der anonymen, unsichtbaren Macht ist dabei immer Aufklärung und Dramatisierung zugleich. Man darf nicht vergessen: Unter den Immigranten im explosionsartig wachsenden New York um 1900 gibt es unendlich viele, die kein Englisch verstehen oder Analphabeten sind. Die Sprache der Cartoons hat jeder begriffen.