Ein Russe hat im Leben schon so viele Wirtschaftskrisen überstanden, dass er in jeder weiteren einer routinierten Logik folgt – und Einkaufen geht immer. So wie Mitte Dezember, als der Rubel-Kurs binnen zweier Tage ein Drittel seines Werts zu Euro und Dollar verlor: Mit Engelsgeduld und frei von Panik reihte sich Igor Normalverbraucher in die Schlangen bei Ikea oder Media Markt, um Westwaren zu kaufen. Denn eines lehrt die Erfahrung: Morgen könnte alles noch schlimmer werden.
Tatsächlich steht Russland vor einer ungewissen Zukunft. Ausgerechnet Präsident Wladimir Putin, der über anderthalb Jahrzehnte als Garant für Stabilität stand, ist zum wandelnden Risiko geworden. Der Präsident trägt die Verantwortung für die Krim-Annexion, schürte den Krieg in der Ostukraine und provozierte so die Sanktionen des Westens.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Mit dem willkürlich wirkenden Urteil gegen den Oppositionellen Alexei Nawalny und dessen Bruder Oleg wegen angeblicher Geldwäsche setzte die russische Justiz am Dienstag noch einen drauf: Wer Kritik am Kreml wagt, so die Botschaft, riskiert seine Verfolgung. Inzwischen schrecken Putins „Strafverfolger“ nicht einmal vor der Sippenhaft zurück: Über politische Aktivitäten wie sein Bruder war der verurteilte Oleg Nawalny bislang nicht aufgefallen. Trotzdem muss der Unternehmer für dreieinhalb Jahre in Haft, während sein Politiker-Bruder mit Bewährung, Hausarrest und Internet-Verbot belegt wird.
Für Investoren ist dies eine denkbar schlechte Nachricht zum Jahreswechsel: Nicht, dass viele auf den Juristen Nawalny setzen, der zwar solide Vorstellungen von einer Modernisierung des Landes hätte, bisweilen aber auch mit nationalistischen Tönen aufgefallen war. Nein, die Unternehmer halten sich bei solch innenpolitischen Fragen lieber heraus, auch heute noch. Aber das Willkür-Urteil gegen den Kritiker zeigt, wie unberechenbar das Regime in Russland mittlerweile geworden ist – einmal mehr.
Schon vier Wochen zuvor hatte der plötzliche Baustopp des Pipeline-Projekts „South Stream“ die Investoren aufgeschreckt. Dabei standen die Zeichen ein Jahr zuvor noch auf Entspannung, als Putin kurz vor Weihnachten den Kremlkritiker und Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski begnadigte.
Von der einstmaligen Hoffnung auf ein bisschen mehr Rechtssicherheit und Planbarkeit im Russlandgeschäft ist nicht mehr viel übrig, wenn Putin in der Silvesternacht seine jährliche Fernsehansprache hält. Zwar schien er zuletzt verbal etwas abzurüsten, was den Konflikt in der Ukraine betrifft. Doch bei jedem öffentlichen Auftritt erkennt man einen Staatschef, der sich im Krieg mit dem Westen wähnt. Auf eine Pressekonferenz kurz vor Weihnachten gab er dem Ausland die Schuld am Währungsverfall und kündigte „geeignete Maßnahmen“ zur Stabilisierung des Rubel an. Der setzte daraufhin seine Talfahrt fort. Ein Signal für Reformen war dieser Auftritt nicht. Für Investoren lautete die Botschaft eher: Raus aus dem Rubel! Selbst ein Massenverkauf an Devisen, zu dem Staatsunternehmen wie Gazprom gezwungen wurden, konnte die Landeswährung in der Weihnachtswoche nur kurzfristig stabilisieren. Zwischen den Jahren kollabierte der Rubel weiter. „Investoren haben dem Rubel das Vertrauen entzogen“, urteilt Dmitri Trawin. Der Chef des Zentrums für Modernisierungsstudien an der Europäischen Universität Sankt Petersburg erwartet, dass mit einem weiteren Sinken des Ölpreises auch der Rubel absackt. Dabei wirkt der niedrige Ölpreis lediglich als Katalysator einer hausgemachten Krise, die bereits 2013 begann – lange vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts. Da hatte sich bereits die Konsumlaune der Russen verschlechtert, während die Kapitalflucht wegen des repressiven Klimas in Russland zunahm. Mangels Investitionen und bei anhaltend hoher Korruption wollte die russische Wirtschaft einfach nicht mehr wachsen wie bis zur Krise von 2008/09.
Unvermeidbare Rezession in Russland
Immer wieder hatte Präsident Putin die Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft versprochen. Nie traute er sich ernsthafte Reformen zu, die das Land attraktiver für Investoren machen würden. Stattdessen vertraute der Kremlchef auf den steten Zufluss von Öl- und Gasmilliarden. Im 15. Jahr unter seiner Herrschaft ist Russland so abhängig von Rohstoffexporten wie nie zuvor. Mehr als 50 Prozent trägt die Öl- und Gaswirtschaft über Zölle und Steuern zum Haushalt bei. Die Einnahmen werden zwar in Rubel fällig und sorgen im kommenden Jahr trotz des niedrigen Ölpreises für ein stabiles Budget, denn Rohstoffe werden in Dollar bezahlt. Doch weder dies noch die üppigen Reserven von rund 400 Milliarden Dollar werden die Rezession verhindern.
Miserables Klima
Im neuen Jahr fällt nicht nur das Öl als Konjunkturtreiber aus. Ebenso verbilligt sich Gas, dessen Preis in den meisten Verträgen jenem des Öls mit Verspätung folgt. Auch der private Konsum, der das Wachstum über Jahre befeuert hatte, fällt plötzlich weg. Viele Haushalte haben ihren Bedarf an modernen Waren gedeckt, nun wächst die Unsicherheit, die Preise auf Westwaren steigen. Kurzfristig befeuert die staatlich gesteuerte Import-Substitution beim niedrigen Rubel-Stand die Industrieproduktion.
Doch es fehlt bei einem Leitzins in Höhe von 17 Prozent und einem miserablen Investitionsklima an Finanzierungen, zumal der Bankensektor infolge der Sanktionen auch im Westen kaum mehr Kredite aufnehmen kann. Wer noch Kapital hat, schafft es ins Ausland: In Moskau fürchten viele Kapitalverkehrskontrollen wie in der Ukraine, falls der Staat den Geldabfluss – in diesem Jahr waren es rund 130 Milliarden Dollar – nicht in den Griff bekommt. Derweil ist die Regierung gezwungen, die erste Bank vor der Insolvenz zu retten, weitere werden wohl folgen.
Immer trüber werden die Aussichten. Falls Öl weiter unter 60 Dollar pro Barrel kostet, erwartet die Notenbank einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um bis zu 4,7 Prozent. Deutsche Investoren spüren schon jetzt die Folgen anhand des Währungsverfalls – allen voran jene, die nur exportieren, sagt Ulf Schneider, Chef des Beratungsunternehmens Russia Consulting. Der Rubel-Kollaps zum Jahresende habe Unternehmen „kalt erwischt“. Sie müssen ihre russischen Beteiligungen anhand des niedrigen Rubel-Kurses neu bewerten, so Schneider: „Viele Investoren werden nicht umhinkommen, ihren Russlandtöchtern kurz vor dem Bilanzstichtag noch Kapital zuzuschießen, damit sie die Eigenkapital-Vorschriften erfüllen.“