WirtschaftsWoche: Prof. Langhammer, die EU will ein Ölembargo gegen Russland verhängen, um die russische Wirtschaft zu schwächen und Präsident Putin dazu zu bewegen, den Krieg gegen die Ukraine einzustellen. Wie beurteilen Sie die Erfolgschancen dieses Vorhabens?
Rolf J. Langhammer: Wer glaubt, Russland mit einem Ölembargo schnell in die Knie zwingen zu können, der wird enttäuscht werden. Der russische Staat und die weitgehend vom Staat gelenkte Wirtschaft des Landes sind finanziell und materiell auf einen längeren Krieg vorbereitet. Der Internationale Währungsfonds hat Russland in seinem jüngsten Länderbericht von Anfang 2021 eine hohe finanzpolitische Solidität bescheinigt. Wenn man es in Schulnoten ausdrücken will, hat er dem Land in der Haushaltspolitik eine Eins Plus mit Sternchen vergeben.
Wie kommt das?
Russland hat in den vergangenen Jahren eisern Ausgabendisziplinen geübt. Die Staatsverschuldung ist mit 20 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt geradezu winzig, wenn man sie mit westlichen Ländern vergleicht. Der derzeit hohe Ölpreis beschert Russlands Staatshaushalt zudem hohe Einnahmen, das Land könnte dadurch finanziell sogar mit der Hälfte der bisherigen Ölexportmenge auskommen. Zumal die reinen Förderkosten für russisches Öl nur bei 10 bis 15 Dollar je Fass liegen. Nicht zu vergessen, dass Russland einen milliardenschweren Staatsfonds aufgebaut hat, mit dessen Mitteln es Einnahmenschwankungen in seinem Staatshaushalt ausgleichen kann. Putin hat die finanzielle Abhängigkeit seines Landes vom US-Dollar und den Dollar-Finanzströmen in den vergangenen Jahren deutlich verringert.
Heißt das, ein Ölembargo des Westens läuft komplett ins Leere?
Die EU ist zwar ein wichtiger Abnehmer russischen Öls. Doch der wichtigste Einzelabnehmer ist China. Putin wird versuchen, den Wegfall des europäischen Absatzmarktes durch verstärkte Exporte nach China und in andere Länder auszugleichen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich viele Länder noch nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. Das gilt neben China und Indien auch für Lateinamerika und Afrika. Getragen werden die Sanktionen im Grunde genommen nur von den angelsächsischen Ländern, der EU und Japan. Paradoxerweise trägt ausgerechnet der Krieg dazu bei, dass der Schaden für Russland durch ein EU-Ölembargo geringer ausfällt als viele vielleicht vermuten.
Das müssen Sie erklären.
Der nicht zuletzt durch den Krieg gestiegene Ölpreis und die verlangsamte Konjunktur dämpfen die Nachfrage nach Öl in Europa. Außerdem benötigt Russland einen größeren Teil seiner Ölförderung für den Eigenverbrauch. Denn seine Panzer und Lastwagen sollen ja weiterhin rollen und die Kampfflugzeuge weiterhin fliegen. Auch ohne ein Ölembargo wird Russland daher in den nächsten Monaten weniger Öl nach Europa exportieren. Der Schaden durch ein Embargo ist daher nicht so groß wie man vielleicht vermutet. Mit einem Ölembargo allein können wir Putin jedenfalls nicht in Kürze in die Knie zwingen. Zumal ihn die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs für das eigene Land nicht wirklich interessieren. Er lächelt sie einfach weg.
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Aber die Bevölkerung in Russland lächelt sie nicht weg. Sie leidet unter den Sanktionen und dem Rückzug westlicher Unternehmen.
Ein großer Teil der Bevölkerung in Russland steht weiter hinter Putin und seinem Krieg. Sicher, viele westliche Produkte werden die Bürger in Russland in Zukunft nicht mehr kaufen können. Aber die russische Bevölkerung ist Entbehrungen gewohnt. Und Gucci-Taschen braucht man nicht unbedingt, um zu überleben.
Aber Nahrungsmittel.
An Nahrungsmitteln mangelt es Russland noch nicht. Das Land verfügt über einen großen Agrarsektor. Außerdem sind Lebensmittel nicht von den Sanktionen des Westens betroffen. Russland kann diese weiterhin aus der EU importieren. Aus Lateinamerika und allen anderen Ländern, die bei den Sanktionen nicht mitmachen, sowieso. Putin wird alles tun, damit die Russen nicht in Existenznot geraten und die Unterstützung für ihn wegbricht. Der hohe Staatsanteil an der Wirtschaftsleistung erleichtert ihm das.
Inwiefern?
Ein großer Teil der russischen Bevölkerung ist direkt oder indirekt beim Staat beschäftigt. Putin wird den Staatsbediensteten höhere Gehälter zahlen und sie durch Preiskontrollen vor Inflation schützen. Die Erfahrung zeigt: Sanktionen erhöhen die Abhängigkeit der Bürger und Unternehmen vom Staat, seinen Subventionen, Einkommenshilfen und Beschäftigungsangeboten. Das stärkt den Staat und schwächt den ohnehin in Russland relativ kleinen privaten Sektor. Putin wird mit eiserner Hand gegen Schwarzmärkte und die Schattenwirtschaft vorgehen. Denn sie spalten die Gesellschaft und schmälern den Rückhalt für sein System.
China macht bei den Sanktionen gegen Russland nicht mit. Welche Rolle spielt das Land für die Sanktionspolitik des Westens?
Für Russland ist China der wichtigste Hebel, um die wirtschaftlichen Folgen der westlichen Sanktionen gering zu halten. Solange sich China Russland als Absatz- und Beschaffungsmarkt anbietet, können die Sanktionen wenig ausrichten. Russland wird versuchen, sein Öl über Umwege in die EU zu liefern. Dabei könnte China helfen. Die Bedeutung Chinas für die Sanktionspolitik des Westens kann gar nicht überschätzt werden. Gelänge es dem Westen, China auf seine Seite zu ziehen, sähe es düster für Russland aus. Aber das wird jetzt nicht geschehen. China wird sich zwar nicht offen auf die Seite Russlands schlagen, weil es fürchten muss, sonst ebenfalls ins Fadenkreuz der westlichen Sanktionen zu geraten. Aber es wird sich Russland als versteckter Sanktionsbrecher anbieten, auch um die Kosten für den Westen zu erhöhen.
Sind Sanktionen grundsätzlich ein unwirksames Instrument, um politische Veränderungen zu erreichen?
Die Erfahrung spricht nicht gerade für Sanktionen zur Durchsetzung politischer Ziele. Die Forschung zeigt, dass etwa zwei Drittel aller Sanktionen ins Leere laufen. Nur wenn sich ausreichend Länder mit großem Einfluss an Sanktionen beteiligen, haben diese eine Erfolgschance.
Aber wenn der Westen Russland vom Technologietransfer abschneidet, wird das doch nicht ohne Folgen für Russland bleiben.
Man muss unterscheiden zwischen der kurz- und der langfristigen Perspektive. Mit Sanktionen kurzfristig politische Veränderungen zu erzwingen, ist schwierig. Aber auf lange Sicht können Sanktionen die Wirtschaft des sanktionierten Landes durchaus schädigen. So hängt das Wachstum der russischen Wirtschaft davon ab, ob das Land seinen Kapitalstock mit Hilfe importierter Kapitalgüter modernisieren kann. Die Sanktionen des Westens, das Einfrieren der russischen Währungsreserven und das Abschneiden Russlands von Technologieexporten werden die russische Wirtschaft langfristig stark zurückwerfen. Ob das reicht, damit Putin die Kriegslust verliert oder die Bevölkerung ihn aus dem Amt jagt, ist fraglich.
Wenn Russlands Wirtschaft zerbröselt, leidet dann nicht auch die gesamte Region?
Viele Länder, die früher Teil der Sowjetunion waren, hängen heute stark von der Wirtschaft in Russland ab. Nehmen Sie die Republik Moldau. Ein großer Teil des Einkommens dort stammt von den Überweisungen, die die Bürger Moldaus als Gastarbeiter in Russland erwirtschaften. Verlieren sie ihre Jobs, destabilisiert das die Wirtschaft in Moldau. Ähnliches gilt für kaukasische Staaten wie Georgien. Im ungünstigsten Fall destabilisiert der wirtschaftliche Niedergang Russlands die gesamte Region. Mit Sanktionen ist es wie mit Krieg: Alle leiden darunter, wenn auch in unterschiedlichem Maße.
Wer leidet wirtschaftlich am geringsten?
Unsere Forschungen zeigen, dass die USA am wenigsten leiden. Der wirtschaftliche Verlust in Amerika durch Sanktionen gegen Russland ist im Verhältnis zu dem Verlust, den die USA Russland zufügen, relativ gering.
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