Diese Überlegung verdeutlicht das Dilemma der Notenbanken. Janet Yellen, die Chefin der US-Notenbank droht schon seit mehr als einen Jahr mit einer Zinsanhebung. Doch bislang konnte sie sich nicht zur Umsetzung ihrer Drohung durchringen. Ein ähnliches Vorgehen ist bei der Bank of England zu beobachten. Das Zaudern der großen Notenbanken ist auf die Sorge zurückzuführen, dass Zinsanhebungen die Schuldentragfähigkeit der Wirtschaft schwächen werden. Möglicherweise sogar so sehr, dass das aktuelle Verschuldungsniveau nicht mehr tragbar ist.
Der Instrumentenkasten der EZB
Wieder einmal blicken alle in der Euro-Schuldenkrise gebannt nach Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB) soll es im schlimmsten Fall richten, mit ihrem Waffenarsenal intervenieren und so die Märkte beruhigen.
Zwar streiten sich Fachleute und auch die Notenbanker darüber, wie effektiv, nachhaltig und sinnvoll weitere Eingriffe der Geldpolitik sein könnten. Fest steht aber: die EZB verfügt als einzige Institution über einen gut gefüllten und theoretisch sofort verfügbaren Instrumentenkasten, um angeschlagenen Banken unter die Arme zu greifen, Institute im Falle eines Bank-Runs mit neuem Geld zu schützen und durch ihre Finanz-Feuerkraft wenigsten für eine begrenzte Zeit wieder für Ruhe an den Börsen zu sorgen.
Vor dem Wahlsonntag in Athen verdichten sich die Hinweise, dass die großen Notenbanken der Welt gemeinsame Sache machen und die Märkte mit Geld fluten könnten. Eine solche konzertierte Aktion der Zentralbanken gab es schon einmal - Anfang Oktober 2008, kurz nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers, als weltweit die Finanzströme zu versiegen drohten.
In der aktuellen Krise rund um die Überschuldung Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder hat bislang nur die britische Notenbank angekündigt, dass sie gemeinsam mit dem Finanzminister in London ihren Bankensektor zum Schutz vor aus Griechenland überschwappenden Problemen mit 100 Milliarden Pfund fluten will. Am Freitag sorgte die Aussicht auf eine gemeinsame Intervention der Zentralbanken zunächst für bessere Stimmung an den Märkten.
Aktuell steht der Leitzins der EZB bei 0,75 Prozent. Die Notenbank kann natürlich jederzeit an dieser in normalen Zeiten wichtigsten Stellschraube drehen. Es wäre ein historischer Schritt: Noch nie seit Bestehen der Währungsunion lag der Schlüsselzins für die Versorgung des Finanzsystems mit frischer Liquidität niedriger.
Allerdings nimmt der Spielraum der EZB mit jeder weiteren Leitzinssenkung ab - schließlich rückt damit die Nulllinie unausweichlich immer näher. Fachleute erwarten, dass die Zentralbank mit weiteren Zinssenkungen so lange wartet wie nur möglich, um für den Fall echter Verwerfungen an den Finanzmärkten, wie sie etwa bei einem Austritt der Griechen aus der Euro-Zone drohen würden, noch Munition zu haben.
Um den Geldmarkt wiederzubeleben und die Banken zu ermuntern mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf zu geben, könnte die EZB den sogenannten Einlagezinssatz auf null Prozent kappen. Dieser Zins liegt aktuell bei 0,25 Prozent. Das bedeutet, dass Banken, die keiner anderen Bank mehr trauen, immerhin noch Geld dafür bekommen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der EZB parken. Bei einem Einlagezinssatz von einem Prozent entfiele der Anreiz dies zu tun. Doch ob die Banken der EZB den Gefallen tun oder das Geld dann lieber horten, ist fraglich. Aktuell parken sie jedenfalls knapp 800 Milliarden Euro in Frankfurt.
Im Dezember und im Februar ist es der EZB gelungen, mit zwei jeweils drei Jahre laufenden Refinanzierungsgeschäften die Gemüter der Banker wenigstens für eine Zeit lang zu beruhigen. Damals sicherten sich die Geldhäuser insgesamt rund eine Billion Euro bei der Zentralbank zum Billigtarif von nur einem Prozent.
Einige Experten glauben, dass weitere langlaufende Geschäfte dieser Art das durch die Unsicherheit über die Zukunft der Euro-Zone untergrabene Vertrauen wieder zurückbringen könnten. Die Banken, die sich um den Jahreswechsel bei der EZB bedient haben, sind allerdings ohnehin bis mindestens Ende 2014 abgesichert. Außerdem kann jede Bank darüber hinaus bei den wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften der Notenbank aus dem Vollen schöpfen.
Damit den Banken die Sicherheiten nicht ausgehen, die diese als Pfand bei den Refinanzierungsgeschäften mit der Notenbank stellen müssen, kann die EZB weitere Erleichterungen bei den Anforderungen beschließen. Sie kann dabei auch selektiv nach Ländern vorgehen, um gezielter zu helfen. Allerdings sind Erleichterungen bei den Sicherheiten immer auch ein Politikum, weil dadurch die Risiken steigen, die die Zentralbank durch die Refinanzierung in ihrer Bilanz ansammelt. Im Fall der Fälle müssten diese von den Steuerzahlern der Mitgliedsländer getragen werden.
Die EZB hat seit Mai 2010 Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder für mehr als 200 Milliarden Euro gekauft. Das im Fachjargon SMP (Securities Markets Programme) genannte Programm ist wegen seiner möglichen Nebenwirkungen in Deutschland und einigen anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern umstritten. Es ruht derzeit, kann allerdings jederzeit wieder vom EZB-Rat in Kraft gesetzt werden.
Ob es allerdings noch seine erhofften positiven Wirkungen am Bondmarkt entfalten kann, ist unklar. Wegen der Erfahrungen bei der Umschuldung Griechenlands im Frühjahr dürften wenige private Investoren wie Banken oder Versicherungen der EZB folgen und wieder in den Markt gehen, weil sie fürchten, dass die Zentralbank erneut einen Sonderstatus als Gläubiger durchsetzen könnte, wie sie es im Fall Griechenland getan hat.
Theoretisch kann die EZB neben Staatsanleihen auch andere Arten von Wertpapieren kaufen und auf diese Weise Geld schaffen: zum Beispiel Bankschuldverschreibungen, Aktien und Unternehmensanleihen. Während der Ankauf von Bank Bonds eine durchaus denkbare Möglichkeit wäre, Liquidität bei den Banken zu schaffen, scheinen andere Wege wenig erfolgversprechend. So könnte die EZB wohl schlecht erklären, warum sie etwa Aktien von Banken kauft, nicht aber von Auto- oder Chemiekonzernen. Oder sie setzt sich dem Verdacht aus, der einen Bank mehr Aktien abzukaufen als anderen oder zum Beispiel spanische Institute deutschen oder österreichischen Banken vorzuziehen.
Theoretisch kann die EZB auch ihre Anforderungen an die Mindestreserve der Banken, die diese bei ihr halten müssen, absenken. Sie hat dies um den Jahreswechsel bereits getan und den Satz ihrer gesamten Einlagen, den jede Geschäftsbank bei ihr parken muss, von zwei auf ein Prozent halbiert. Dadurch hatte sie damals eine Summe von rund 100 Milliarden Euro für die Banken freigemacht. Ein solcher Schritt würde es für Banken in Südeuropa, die wohl am ehesten unter einer Kapitalflucht leiden würden, leichter machen, Mittel flüssig zu halten.
Aber ist es tatsächlich so, dass die Zinsen, nachdem sie historische Tiefststände erreicht haben, auch wieder steigen müssen? Richtig ist, dass eine zu lange durchgehaltene Niedrigzinspolitik große Gefahren birgt. Wenn die Inflation sich dann schneller als erwartet beschleunigt, ist es nicht mehr mit kleinen Zinsschritten getan. In diesem Fall müssten die Notenbanken mit kräftigen Zinsanhebungen gegenhalten. Und das würde unvermeidlich eine starke Abkühlung der Weltwirtschaft auslösen.
Die entscheidende Frage ist daher: Wie groß ist die Gefahr einer Inflationsbeschleunigung? Zurzeit ist die Inflation – bedingt vor allem durch den Ölpreis – fast überall niedrig. Das Wirtschaftswachstum und die Lohnentwicklung deuten ebenfalls nicht auf eine Inflationsbeschleunigung. Aktuell sind die Notenbanken noch nicht gezwungen, mit dem Zinsanhebungszyklus zu beginnen.
Normalisierung um das Jahr 2020
Solange die Inflation nicht deutlich über die Zielgröße der Notenbanken von rund zwei Prozent steigt, ist es vertretbar, auf Zinsanhebungen zu verzichten. Die Hoffnung ist, dass die weltweite Schuldenlast durch eine maßvolle Inflation langsam abgebaut wird. Solange Wirtschaftswachstum und Lohnentwicklung moderat bleiben, kann man argumentieren, dass das Risiko eines plötzlichen und starken Anstiegs der Inflationsraten nicht so hoch ist, dass es in den Überlegungen der Notenbanken Priorität haben müsste. Diese Notenbankpolitik könnte bis zum Ende des laufenden Zyklus durchgehalten werden.
Dies würde bedeuten, dass eine Normalisierung des Zinsniveaus erst um das Jahr 2020 vollzogen wäre. Erst im nächsten Wachstumszyklus, könnte die Notenbankpolitik dann wieder zu einer normalen, "lehrbuchmäßigen" Zinspolitik zurückkehren.
Doch für die Notenbanken ist eine solche Politik eine Gratwanderung. Einerseits ist die Gefahr einer schnellen Inflationsbeschleunigung niemals vollständig zu leugnen, und damit die Gefahr, dass die notwendigen starken Gegenmaßnahmen die Weltwirtschaft abermals destabilisieren würden. Andererseits, wenn die Notenbanken diese Politik erfolgreich umsetzen, hätten wir die Möglichkeit, die in der Wirtschaftskrise entstandenen Ungleichgewichte langsam abzubauen und mit einer gesunden Wirtschaftsstruktur den nächsten Aufschwung zu beginnen.