Sozialphilosoph Hans Joas "Die Lust an genereller Kapitalismuskritik ist zurück"

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Demokratische Willensbildung

Wie viele Arbeitsstunden ein Kotelett kostet
Das Institut für Wirtschaft Köln kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass Löhne und Preise proportional gestiegen seien. 2011 bekam ein Arbeitnehmer für die geleistete Arbeitsstunde netto 45 Prozent mehr Lohn als vor 20 Jahren. Die Warenpreise seien im selben Zeitraum um 43 Prozent geklettert. Arbeitnehmer müssen dementsprechend für einen identischen Warenkorb heute genauso lange arbeiten wie zu Beginn der 1990er Jahre. Quelle: dpa/dpaweb
Anders verhält es sich für ostdeutsche Arbeitnehmer. Bei ihnen sei die Kaufkraft in den vergangenen zwei Jahrzehnten um 21 Prozent gestiegen, sagte ein Institutssprecher. Seit der Wiedervereinigung hätten sich die Entgelte in Ostdeutschland fast verdoppelt, die Preise für Waren und Dienste seien um knapp 70 Prozent gestiegen - und damit weniger stark. Die Löhne und Gehälter seien im Osten aber immer noch deutlich niedriger als im Westen. Quelle: dpa/dpaweb
Lebensmittel hat der teils als „Teuro“ verschriene Euro laut der Studie nicht teurer gemacht. Eine Flasche Kölsch erfordere damals wie heute den Gegenwert von drei Arbeitsminuten an der Werkbank oder im Büro. Quelle: dpa/dpaweb
Je nach Konsumverhalten seien Produkte auch günstiger geworden: Für ein Schweinekotelett reichten pro Kilo Fleisch statt 36 Minuten bereits 30 Minuten Arbeit. Quelle: dpa/dpaweb
Auch Alltagsgüter wie Kleidung seien durch einen vergleichsweise geringeren Preisanstieg schneller verdient als im Jahr 1991. "Für einen Herrenanzug beträgt die Arbeitszeitersparnis immerhin mehr als fünf Stunden, für Damenpumps eindreiviertel Stunden", betonte das IW. Quelle: dpa/dpaweb
Auch viele Elektronikprodukte sind erschwinglicher geworden. "Der Arbeitszeiteinsatz für einen Fernseher ist von über 76 auf nur noch 30 Stunden gesunken - obwohl man für den selben Preis heute ein Flachbildgerät mit Full-HD-Auflösung bekommt." Quelle: dpa/dpaweb
Allein mit dem Benzinpreis konnten die Löhne und Gehälter nicht mithalten, wie das IW einräumt: Für eine Tankfüllung musste 2011 fast zwei Stunden länger gearbeitet werden als zwanzig Jahre zuvor. Quelle: dapd

Die Geschichte der Märkte ist eine Geschichte der Ordnungspolitik…

… und das heißt modern: Marktwirtschaft ist an die Geschichte der demokratischen Willensbildung gebunden. Die Bürger entscheiden, wie restriktiv oder nicht-restriktiv sie ihre Märkte einrichten wollen. Im Falle der Finanzmärkte ist die Deregulierung eindeutig zu radikal ausgefallen. Es ist gut, dass das jetzt korrigiert wird…

… und zwar ohne die Marktwirtschaft als solche in Frage zu stellen. 

Jedenfalls tun das die meisten nicht. Wobei ich schon feststelle, dass es wieder so etwas wie einen Schickeria-Marxismus gibt, eine gewisse Lust an genereller Kapitalismus-Kritik, am Untergang des Systems. Es geht aber doch darum, die spezifischen Bedingungen, unter denen eine bestimmte Variante des Kapitalismus diesen selbst schädigt, zu identifizieren – und diese Bedingungen zu ändern.

Wie weit darf die Re-Regulierung aus moralischer Sicht gehen? 

Es geht bei der Regulierung darum, den Wirtschaftenden ihre Eigeninteressiertheit an Moral anzudemonstrieren. Dabei ist Eigeninteresse unter dem Gesichtspunkt der Moral natürlich zu wenig. Ein wirklich moralisches Individuum ist man nur, wenn man moralisch um der Moral willen ist, das heißt: wenn man eingesehen hast, dass man gut handeln soll – und es nicht nur tut, wenn es einem nützt. 

Sind Sie optimistisch, was die zunehmende Verbreitung einer solchen Moral betrifft?

Es spricht viel dafür, dass diese Moral heute weiter verbreitet ist, als die meisten glauben. Was zum Beispiel die Attraktivität der Menschenrechte anbetrifft, so bin ich optimistisch. Sie erschließt sich jedem aufgrund bloßer Erfahrungen – und zwar ganz unabhängig von seinem religiösen oder kulturellen Umfeld. Die Revolutionen in der arabischen Welt zeigen das exemplarisch. 

Mag sein. Aber hat die Beachtung der Menschenrechte auch in Deutschland Fortschritte gemacht? 

Unbestreitbar ist, dass die Sensibilität für Verstöße gegen die Menschenwürde in Deutschland – etwa in Bezug auf Gewalt gegen Kinder – in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Die Autonomie des Individuums, Berührung willkommen zu heißen oder nicht, wird mehr denn je als Wert empfunden. 

Dagegen spricht, dass zum Beispiel die Prostitution ein weit verbreitetes Phänomen bleibt.

Ja. Aber Verstöße gegen die Menschenwürde sind kein Argument gegen den Wert der Menschenwürde. Ich würde sogar umgekehrt sagen: Werte drücken nicht aus, was ist. Sie sensibilisieren für Missstände. Wenn man unter dem Gesichtspunkt eines neuen oder neuerdings stärker akzentuierten Wertes auf die Welt blickt, dann blickt man anders auf diese Welt. Man findet Missstände, die vorher gar nicht als Missstände bewusst waren. 

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