
WirtschaftsWoche: Herr Streeck, Sie kündigen das nahende Ende des Kapitalismus an. Wie kann ein Gesellschaftssystem enden, das den meisten Menschen auf der Welt alternativlos scheint und das kaum jemand abschaffen will?
Wolfgang Streeck: Zunächst habe ich einfach darauf aufmerksam gemacht, dass auch der Kapitalismus ein historisches Phänomen ist. Als Gesellschaftsordnung ist er nicht älter als rund zwei Jahrhunderte. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Allerdings müssen wir uns frei machen von dem Fortschrittsglauben, der noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Dieser besagt, dass eine Gesellschaft nur enden kann, wenn sie von einer besseren abgelöst wird.
Zur Person
Wolfgang Streeck war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuletzt veröffentlichte er: „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Suhrkamp 2013.
Ich glaube, dass es gute Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass der Kapitalismus nicht durch eine Revolution abgeschafft oder überwunden wird, sondern von selbst verendet. Es gibt viele Symptome des Niedergangs, aber am wichtigsten sind drei langfristige Trends in den hochentwickelten, kapitalistischen Ländern.
Und zwar?
Zuerst der anhaltende Rückgang der Wachstumsraten, verschärft seit 2008. Verbunden damit die extreme Zunahme der Verschuldung, sowohl der Staaten als auch der Privathaushalte und Unternehmen. Drittens die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in diesen Gesellschaften. Mein Bild vom Ende des Kapitalismus, das meiner Ansicht nach schon begonnen hat, ist das eines dauernd reparaturbedürftigen sozialen Systems.
Was die Menschen vom Kapitalismus halten
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 16 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 75 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 8 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 6 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 47 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 43 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 59 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 56 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 13 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 57 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 19 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 25 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 53 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 13 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 11 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 58 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 18 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 12 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 44 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 23 Prozent
Die Krise begann für Sie also nicht erst 2008.
Ich habe in meinem Buch „Gekaufte Zeit“ gezeigt, wie die Spannungen innerhalb des Systems des demokratischen Kapitalismus seit den 1970er Jahren zu dreieinhalb Phasen krisenhafter, immer globalerer Entwicklung führten. Die Lösungen, die das Wachstum ankurbeln und die Verteilungsprobleme beschwichtigen sollten, waren Inflation, Staatsverschuldung, Aufblähen des Finanzsektors. Die dreieinhalbte, aktuelle Phase ist das Aufblähen der Bilanzsummen der Zentralbanken. Alle diese Lösungen sind hochgefährlich! Denn es sind nur Zwischenlösungen, die sich in Probleme verwandelten und daher unter erheblichen Schwierigkeiten abgelöst werden mussten durch neue Zwischenlösungen.
Die Akteure in Politik und Wirtschaft sehen das anders. Da scheint keiner das Ende des Kapitalismus zu befürchten.
Bei den politischen Entscheidungsträgern herrschte immer wieder Alarmzustand. Als in den Siebzigerjahren die Konjunktur einbrach und die Arbeitslosigkeit stieg, hatten Helmut Schmidt und die anderen damaligen Regierungschefs ständig das Schreckensbild der großen Krise von 1929 vor Augen. Und sie wussten, dass die Heilung dieser großen Krise des Kapitalismus nicht durch Politik stattgefunden hatte. Auch nicht durch Roosevelts New Deal, sondern durch den Zweiten Weltkrieg. Auch heute ist man sich in den Zentralen des Kapitalismus der Dramatik der Lage sehr bewusst. Larry Summers, der unter Clinton die Finanzmärkte deregulierte, spricht von „säkularer Stagnation“. Und der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman fordert, man solle lieber Crashs riskieren und gefährliche Kredite vergeben, als gar keine. Da herrscht doch die schiere Panik. Warum bringt das viele billige Geld kein Wachstum? Brauchen wir staatliche Konjunkturprogramme? Ist die Deflation die große Gefahr, oder doch die Inflation? Man ist ratlos, was zu tun ist.





Der Kapitalismus hat schon viele Krisen und Untergangspropheten überlebt.
Dass der Kapitalismus die Krisen der Vergangenheit überlebt hat, bedeutet nicht, dass das auch in Zukunft so bleibt. Nur die heutigen Standard-Ökonomen mit ihrem mechanistischen Weltbild blenden aus, dass der Kapitalismus historisch, also endlich ist. In Gründungstheorien der modernen Ökonomie war der Untergang des Kapitalismus immer ein Thema, nicht nur bei Marx. David Ricardo war überzeugt, dass der Kapitalismus nicht lange dauern könne. Werner Sombart und Max Weber ebenso. Auch Keynes schrieb bekanntlich, dass seine Enkel, also wir, nicht mehr in einer kapitalistischen Gesellschaft leben würden. Schumpeter hatte eine gute und eine schlechte Vision vom Ende des Kapitalismus. Als er noch jung war, dachte er, dass dieses unmenschliche, auf Wettbewerb und Erwerb fokussierte System den Menschen irgendwann so auf die Nerven gehen würde, dass sie es abschaffen. Der ältere Schumpeter erwartete, dass die Sozialdemokraten das kapitalistische Unternehmertum ersticken würden, aus ähnlichen Gründen: zu unsicher, zu anstrengend.