Soziologe Wolfgang Streeck "Das kann nicht gutgehen mit dem Kapitalismus"

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"Der Kapitalismus braucht Kräfte, die ihn zusammenhalten"

Und dennoch strömen den kapitalistisch weit fortgeschrittenen Ländern wie Deutschland die Menschen zu und die weniger entwickelten Länder streben ihrem Vorbild nach. Alle wollen kapitalistisch werden. Und da reden Sie vom Ende des Kapitalismus.

Sie wollen vor allem reich werden, so reich wie die Amerikaner in den Fernsehserien. Die werden in der Realität aber in der großen Mehrzahl immer ärmer, genau wie heute die meisten Südeuropäer. Selbst unter kapitalistischen Bedingungen ist die Konsumierbarkeit der Welt bekanntlich begrenzt. Es wird keine globale Verallgemeinerung des Konsumkapitalismus geben können.

Die Bereitschaft, unter kapitalistischen Bedingungen zu arbeiten, ist auch vorhanden.

Es gibt ja auch keine Alternativen: Arbeit braucht Kapital, und Kapital gibt es in einer kapitalistischen Weltwirtschaft mit „freien Kapitalmärkten“ nur zu kapitalistischen Bedingungen. Allerdings funktioniert der Markt nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch noch das genommen, was er hat. Damit aber der Kapitalismus als Gesellschaft funktioniert, muss es Gegenkräfte geben, die die Marktergebnisse korrigieren. Das grundlegende Versprechen, auf das der Kapitalismus seine Legitimität als soziale Ordnung gründet, ist, dass aus dem Selbstinteresse der vielen Einzelnen kollektiver Fortschritt und Nutzen für alle erwächst. "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen", heißt das im deutschen Grundgesetz. Damit das eingelöst werden kann, braucht es eine sehr komplexe Institutionenlandschaft: Finanzämter, Gerichte, Wettbewerbsrecht, Gewerkschaften, Sozialversicherung und so weiter. Die muss man erstmal aufbauen und erkämpfen; von alleine gibt es die nicht; "der Kapitalismus" wird den Teufel tun und sich selber begrenzen, auch wenn Gier allein keine stabile Gesellschaftsordnung erzeugen kann.

Der Kapitalismus geht also an sich selbst zugrunde, weil er nicht mehr begrenzt wird.

Bernard Mandevilles dreihundert Jahre alte These von den "private vices", den persönlichen Lastern, die sich in "public virtues", in öffentliche Tugenden verwandeln, ist eines der Gründungsdokumente der kapitalistischen Gesellschaft. Unsere heutige globalisierte Gesellschaft hat mehr oder weniger die Fähigkeit verloren, private Laster in öffentliche Tugenden zu verwandeln. Nehmen Sie nur die Steuermoral. Der französische Ökonom Gabriel Zucman hat kürzlich recherchiert, dass die unfassbare Summe von 4700 Milliarden Euro in Steueroasen hinterzogen wird. Würde dieses Geld legal versteuert, könnten einige Staatshaushalte saniert werden. Siehe auch die von Piketty nun für alle dokumentierte wachsende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen.

Könnten nicht die Länder an der Peripherie des globalen Kapitalismus, also Russland, China, Brasilien, die noch große Wachstumsmöglichkeiten haben, den Kapitalismus von außen verjüngen?

Kapitalismus hat bisher immer nur funktioniert, wenn es für ihn eine globale Ordnungsmacht gab. Im 19. Jahrhundert war es Großbritannien. Nach dem Ersten Weltkrieg konnten die Briten nicht mehr, die Amerikaner wollten noch nicht, und Deutschland hätte gerne gewollt; die Folge war ein politisches und wirtschaftliches Chaos, das im Zweiten Weltkrieg endete. Danach übernahmen dann die Amerikaner die Kontrolle, allerdings nur für relativ kurze Zeit, bis zum Ende des Bretton-Woods-Regimes. Wenn der Kapitalismus vom Rande her erneuert werden sollte, müsste es darum gehen, die Organisationsmacht des Zentrums auf die Peripherie zu übertragen oder die Verantwortung zu teilen. Aber die Amerikaner wollen das nicht, aus wirtschaftlichen wie politischen Gründen. Und Länder wie China, Russland, Brasilien, Südafrika sind alles andere als stabil: mafiöse Strukturen, gewaltige oligarchische Vermögen, Korruption, Steuerhinterziehung. Diese Länder haben es noch nicht geschafft, aus ihren Traditionen und aus ihrer Politik funktionsfähige kapitalistische Gesellschaften hervorzubringen. Das hat auch im Westen lange gedauert und verfällt dort zunehmend.

Was kommt eigentlich nach dem von Ihnen vorausgesagten Verfall der kapitalistischen Gesellschaft? Das große Chaos?

Ich mache keine Vorhersagen. Ich weise nur auf die rapide zunehmenden gesellschaftlichen Brüche hin und wünsche mir, dass wir beim Nachdenken über die Zukunft die Möglichkeit eines langsamen Zerfalls der kapitalistischen Ordnung – einer Reduzierung des gesellschaftlichen Lebens auf die Gesetze des Marktes – nicht ignorieren. Eine Gesellschaft ohne Sicherheit und Solidarität, von Zynismus zerfressen und ständig von platzenden Blasen bedroht, in der sich rettet wer kann, zusammengehalten durch grenzenlose Konsumlust am Rande der ökologischen Möglichkeiten – das kann nicht gutgehen.

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