Man tritt den 124.000 Wolfsburgern wohl nicht zu nahe, wenn man sagt: Ihre Stadt ist nicht besonders schön. Wer zum ersten Mal nach Wolfsburg kommt, sollte am Bahnhof gleich den Hinterausgang nehmen. Dann steht er am Mittellandkanal und blickt unvermittelt auf das Wahrzeichen und Herz der Stadt. Er sieht keine Kirche, keine Altstadt, kein historisches Gemäuer – sondern ein riesiges Logo der Volkswagen AG und die vier unter Denkmalschutz stehenden Schlote des alten VW-Kraftwerks. Gleich daneben erstreckt sich auf 6,5 Quadratkilometern, einer Fläche so groß wie Gibraltar, das Werk des größten Autobauers Europas.
In keiner anderen deutschen Stadt ist die Symbiose von Kommune und größtem Arbeitgeber so vollkommen. „Es gibt in Wolfsburg eine gefühlte Schicksalsgemeinschaft zwischen Bevölkerung, Politik und VW. Hier hat fast jede Familie irgendwas mit VW zu tun“, sagt Oberbürgermeister Klaus Mohrs, 61. Im Werk arbeiten rund 57.000 Menschen, hinzu kommen Tausende Jobs bei Zulieferern. Eine typische Arbeiterstadt ist Wolfsburg aber schon lange nicht mehr. Die Zahl der Akademiker ist in den vergangenen zehn Jahre um 150 Prozent gestiegen. Und was noch wichtiger ist: Unter dem Strich verlief in keiner anderen deutschen Stadt die ökonomische Entwicklung in den vergangenen Jahren - dank der formidablen Geschäfte von VW - so dynamisch wie in der ehemaligen Zonenrandmetropole Wolfsburg.
Zu diesem Ergebnis kommt der große Städtetest von WirtschaftWoche, Immobilienscout24 und IW Consult. Anhand von 89 Einzelindikatoren wurden dabei alle 71 kreisfreien Städte ab 100.000 Einwohner einem Leistungscheck unterzogen. Der Städtetest gliedert sich in zwei Teile. Erstens das Niveauranking, das den Ist-Zustand beschreibt. Hier siegt wie in den Vorjahren München, gefolgt von Ingolstadt und Erlangen. Ganz unten im Ranking: Herne und Gelsenkirchen. Das Dynamikranking untersucht hingegen die Veränderung ausgewählter Indikatoren seit 2007. Hier liegt Wolfsburg vorn, gefolgt von Ingolstadt, Erlangen und Regensburg. Die rote Laterne geht in diesem Bereich an Oberhausen und Remscheid.
Die Ergebnisse zeigen, dass Mittelstädte im Wettbewerb mit den Ballungszentren in vieler Hinsicht mithalten können. Vor allem aber demonstrieren sie die überragende Bedeutung der Automobilindustrie für den Standort Deutschland. Niveausieger München ist Heimat von BMW. Unter den Top Five des Dynamikrankings befinden sich mit Wolfsburg (VW), Ingolstadt (Audi), Regensburg (BMW) und Leipzig (Porsche, BMW) gleich vier Autostädte.
Wolfsburg = VW
„In den 90er Jahren gab es Befürchtungen, Wolfsburg könne ein zweites Detroit werden“, sagt Julius von Ingelheim, Geschäftsführer der Wolfsburg AG, einer Tochterfirma von Stadt und Konzern. „Damals arbeiteten zwei Drittel der VW-Beschäftigten in der Produktion, ein Drittel in Forschung, Entwicklung oder dem Finanzbereich. Heute ist es genau umgekehrt.“ Das Unternehmen floriert und will bis 2018 rund 4,6 Milliarden Euro am Standort Wolfsburg investieren. OB Mohrs drückt es so aus: „Wir sind Boomtown.“
Glückliches Ingolstadt
Das zeigt sich auch bei den Steuereinnahmen. Derzeit wissen die Stadtoberen nicht wohin mit all dem Geld, das auf sie niederregnet. 2012 kassierte die Stadt über 442 Millionen Euro an Gewerbesteuer – ein Zuwachs von 273 Prozent gegenüber 2008. Wolfsburg ist seit 2012 schuldenfrei und kann in den kommenden Jahren mal eben 200 Millionen Euro in die Modernisierung seiner Schulen investieren, speziell in die naturwissenschaftliche Ausstattung.
Das Spiegelbild zu Wolfsburg liegt 526 Kilometer südlich. Im bayrischen Ingolstadt arbeiten rund um das zentrale Werk von Audi gut 50.000 Menschen, das Werksgelände ist doppelt so groß wie die historische Altstadt. Jobs gibt es hier en masse. In Ingolstadt liegt die Arbeitslosenquote bei 2,1 Prozent, das ist die niedrigste Quote aller deutschen Großstädte. Das Problem ist eher, überhaupt noch Fachkräfte zu finden. An dem kleinen Außenposten, den die Bundesagentur für Arbeit noch in Ingolstadt unterhält, baumelt ein Werbeplakat mit der Frage: „Sie suchen qualifizierte Arbeitskräfte?“ Ob es Arbeitsplätze gibt, muss hier keiner fragen. Im Dynamikranking liegt Ingolstadt hinter Wolfsburg auf Rang 2, im Niveauranking hinter Platzhirsch München ebenfalls auf Rang 2.
In Ingolstadt zeigt sich im Guten, welche Folgen eine übermächtige Branche haben kann. An der Ausfallstraße Richtung Manching, zwischen Saunaclub und Matratzen-Outlet, hat der Familienbetrieb Büchl seinen Sitz. Auf den ersten Blick ein mittelständiger Entsorgungsbetrieb, wie es ihn in den Industriegebieten dieses Landes hundertfach gibt. Doch Büchl ist anders. 400 Mitarbeiter, Standorte in Ungarn und Mexiko. Die Erklärung für die Expansion ist einfach: Überall wo Audi hingeht, geht Büchl mit. Denn vom gewöhnlichen Müllentsorger ist das Unternehmen nach und nach zum Spezialdienstleister für Autofabriken geworden. Alles begann mit einem kleinen Auftrag aus dem Ingolstädter Audi-Werk, als der Konzern 1993 eine neue Fertigung in Ungarn eröffnete, übernahm Büchl gleich die komplette Werksentsorgung. Heute arbeiten fast 200 Mitarbeiter für Büchl in Györ.
Regionale Unterschiede
Der Städtetest zeigt zudem, wie groß auch im allgemeinen Aufschwung die regionalen Unterschiede ausfallen. Auffällig gut schneidet etwa die Rhein-Main-Region ab. Berlin erfreut sich einer regen Gründerszene, hat aber bezogen auf die Einwohnerzahl nach Bremerhaven und Gelsenkirchen die meisten Hartz-IV-Empfänger. In Köln gibt es mehr Jobs und mehr Einwohner, aber eine miserable Aufklärungsquote bei Straftaten. Stuttgart darf sich über Platz 5 im Niveauranking, die höchsten Patentzahlen und den fünfthöchsten Anteil Hochqualifizierter freuen.
Viele Strukturdaten haben sich aber verschlechtert, sodass es im Dynamikranking nur zu Platz 42 reicht. In Ostdeutschland zeichnet sich derweil eine Art Marktbereinigung unter den Städten ab. Während die Bevölkerung insgesamt schrumpft, profitieren einige Städte von internen Wanderungen. Rostock ist eine der Wachstumsgeschichten im Osten und punktet mit einem dynamischen Arbeitsmarkt (Platz 15) und hoher Lebensqualität. Ähnlich stark: Leipzig und Dresden. Nirgendwo stieg die Zahl der Beschäftigten schneller als in Leipzig (plus 20 Prozent seit 2007), nirgends sank die Jugendarbeitslosigkeit schneller als in Dresden (minus 5,7 Prozentpunkte). Wegen ihrer hübschen Altstädte müssen sich die Oststädte zudem um eines keine Sorgen machen: das Besucher lieber den Hinterausgang nehmen.