Wie erklären Sie sich dann, Herr Sinn, dass die Krisenländer inzwischen alle Leistungsbilanzüberschüsse haben – und das ohne Ausnahme.
Sinn: Das liegt am Kollaps der Wirtschaft und an den Zinsnachlässen durch die Rettungsschirme. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, dann haben die Exporte in keinem Land den Vorkrisentrend überschritten. Dagegen sind die Importe überall dramatisch eingebrochen, was eben daran liegt, dass die Wirtschaftsleistung eingebrochen ist Das ist leider kein Zeichen für eine Gesundung, sondern genau das Gegenteil davon.
Fratzscher: Wir sollten anerkennen, dass Spanien zum Beispiel Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem umgesetzt hat, die noch weitreichender sind als die der Agenda 2010 in Deutschland. Die Länder müssen sicherlich noch weitere Reformen realisieren, aber es braucht Zeit, bis die Erfolge sichtbar sein werden. Und wir sollten etwas bescheidener sein: In Deutschland hat es fünf Jahre gebraucht, bis sich die Erfolge der Agenda 2010 ausgewirkt haben. Ich sehe keinen Grund, weshalb das in Spanien, Frankreich oder Irland anders sein sollte.
Sinn: Spanien hat eine Double-Dip-Depression erlebt. Die Industrieproduktion ist 30 Prozent unter Vorkrisenniveau, und die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent. Es hat um fünf Prozent real abgewertet, müsste aber um 30 Prozent abwerten, um wieder zu gesunden. Nur in Irland ist wirklich was passiert. Das Land hat seit 2006 bis heute um real 15 Prozent abgewertet. Als die Iren in die Krise kamen, gab es noch keine Rettungsschirme. Deswegen haben sie sofort schmerzhafte Reformen beschlossen. Das haben die Länder in Osteuropa, die ihre Währungen an den Euro gekoppelt hatten, aber keine Hilfen erhielten, genauso getan. Die südeuropäischen Länder dagegen, die nach der Lehman-Pleite gemeinsam in die Krise schlitterten, haben sich einfach das Geld gedruckt, das sie sich nicht mehr leihen konnten. Deshalb kamen die Reformen später.
Die Kardinalfrage ist doch, wie kommen wir von der immens hohen Staatsverschuldung herunter. Reichen Reformen aus, oder brauchen wir doch noch einmal einen radikalen Schuldenschnitt?
Sinn: Diese Länder kommen nur aus ihrer Krise heraus, indem sie die Löhne und Preise kräftig senken. Aber das passiert nur, wenn die Wirtschaft in der Flaute ist. Das wollen die Politiker natürlich verhindern, und deshalb werden sie versuchen, durch immer neue Schulden ein wenig Schein-Wachstum zu erzeugen. So steigen die Schulden immer weiter – und das ist keine Lösung. Was wir brauchen, ist ein großer Schuldenschnitt für die Staatsschulden, die Bankschulden und die Target-Schulden der Euro-Krisenländer. Darüber sollte auf einer großen Konferenz verhandelt werden. Nach einem solchen Schuldenschnitt können wir die Euro-Zone nach Regeln, die besser funktionieren als die alten, neu konstruieren. Und einige Mitglieder werden die Währungsunion dann auch verlassen müssen.
Fratzscher: Das wäre das beste Rezept, um ein Desaster zu verursachen! Ein Schuldenschnitt für Länder wie Italien oder Spanien ist der falsche Weg: Er würde unweigerlich zu einer tiefen Depression in Europa und auch in Deutschland führen. Es würde niemanden helfen und die wirtschaftliche Erholung um viele Jahre verzögern. Eine nachhaltige Entschuldung kann nur über eine weitere Konsolidierung der Staatsausgaben und über Wachstum gelingen.
Sinn: Die Politik hat leider kein Instrument, mit dem sie Wachstum erzeugen könnte.