Streitgespräch "Die Rettungspakete haben deutsches Vermögen geschützt"

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"Wir sollten die Risiken minimieren"

Marcel Fratzscher ist für den Mindestlohn und ist optimistisch bei der Euro-Rettung Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Sinn: Was Sie als Enttäuschung bezeichnen, war die Voraussetzung für die Beschäftigungsgewinne der vergangenen Jahre. Vor zehn Jahren hatten wir in Deutschland eine zu geringe Lohnspreizung und waren Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit von gering Qualifizierten. Das hat sich durch die Agenda 2010 geändert. Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder hat die Arbeitslosenhilfe für mehr als zwei Millionen Menschen auf das niedrigere Sozialhilfeniveau gesenkt. Dadurch waren die Menschen bereit, auch zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und zu niedrigeren Löhnen wurden mehr Jobs geschaffen. Anders als befürchtet hat dies die Einkommensverteilung nicht ungleicher gemacht, denn wer nicht genug verdient, kann Zuschüsse aus öffentlichen Kassen beanspruchen. So haben wir es geschafft, gering Qualifizierte in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihr Existenzminimum zu sichern. Die Bundesregierung betreibt die Rückabwicklung der Agenda.

Fratzscher: Da widerspreche ich Ihnen entschieden. Höhere Löhne bedeuten nicht zwingend mehr Arbeitslosigkeit. Investitionen und eine dynamische Produktivität führen sowohl zu höheren Löhnen als auch zu mehr Beschäftigung, auch für die Arbeitnehmer mit geringen Einkommen. Genau darum muss es auch der Wirtschaftspolitik gehen, und deshalb sollten wir den Mindestlohn nicht in Bausch und Bogen verdammen. Derzeit verdienen rund 4,5 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro in der Stunde. Studien zufolge könnte der Mindestlohn rund 200.000 Arbeitsplätze vernichten, auch wenn Vorsicht geboten ist, denn es kann keine zuverlässige Prognose geben. Für diese Betroffenen ist das eine Tragödie. Die Politik hat sich jedoch entschieden, dass ihr die Einkommenszuwächse für die restlichen 4,3 Millionen wichtiger ist. Ich habe für eine vorsichtigere und differenzierte Ausgestaltung des Mindestlohns plädiert. Nun sollten wir jedoch die politische Entscheidung akzeptieren und versuchen, zumindest die Risiken zu minimieren.

Der Konflikt

Sinn: Ich weiß nicht, woher Sie die Schätzung nehmen, dass der Mindestlohn nur 200.000 Jobs kostet. Andere Berechnungen deuten eher auf Arbeitsplatzverluste von 900.0000 hin. Bundesweit trifft der Mindestlohn 14 bis 15 Prozent der Arbeitnehmer, in den neuen Bundesländern sogar 20 Prozent. In ein paar Jahren wird man diejenigen verdammen, die ihn heute einführen. Wir schaffen uns wieder ein Proletariat, das Sozialhilfe-Karrieren von Generation zu Generation vererbt.

Fratzscher: Sie tun so, als hätten wir keine Möglichkeiten, die Risiken des Mindestlohns für die Arbeitsplätze zu begrenzen. Das Gros der Menschen, die heute weniger als 8,50 Euro verdienen, hat keinen Berufsabschluss oder eine unzureichende Ausbildung. Zudem muss die Politik handeln, um Ausweichreaktionen in Minijobs, Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit zu bekämpfen. Wir sollten also nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern an der Ausgestaltung arbeiten, um die Risiken zu reduzieren, auch wenn der Mindestlohn kurzfristig zweifelsohne Arbeitsplätze kosten wird.

Sinn: Der davon ausgelöste Lohnschub wird flächendeckend sein. Im Übrigen geht es aber nicht nur um diejenigen, die schon einen Job haben. Derzeit sind rund drei Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Das sind drei Millionen zu viel. Ich hätte mir gewünscht, dass man auf dem Weg der Agenda 2010 noch einen Schritt weiter gegangen wäre und die Lohnzuschüsse erhöht hätte. Die Marktlöhne hätten sich dann noch weiter ausspreizen können, bis die Arbeitslosigkeit verschwunden ist. Jetzt hat die Regierung die Weichen in die andere Richtung gestellt. Wenn deutlich wird, dass der Mindestlohn Jobs vernichtet, wird man den Arbeitgebern Lohnzuschüsse gewähren, damit sie die Kosten des Mindestlohns nicht in vollem Umfang tragen müssen.

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