Systemkritik Kapitalismus in der Reichtumsfalle

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Immer mehr ist schwierig

Ein Haufen Geld: Das Pro-Kopf-Einkommen in den hoch entwickelten Industrieländern ist seit den 30er-Jahren fast um das Achtfache gestiegen. Doch das Wirtschaftswachstum ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Quelle: dpa

Lösen lässt sich das Problem, indem man die Leute dazu bringt, zu kaufen, ohne zu konsumieren. Also noch mehr Bücher ins Regal, noch mehr Kleider in den Schrank, noch mehr Spielsachen ins Kinderzimmer zu packen und sie dann möglichst schnell zu vergessen und wieder neue zu kaufen. Mit geschickter Werbung lässt sich das schon bewerkstelligen, aber es ist schwierig, es ist teuer, und irgendwann schafft man es nicht mehr. So wird die kapitalistische Maschine erst langsamer. Dann bleibt sie stehen.

Offenbar nähern sich die meisten hoch entwickelten Industrieländer diesem Punkt. Die Geschäfte sind nicht leer, keineswegs, die Leute kaufen ein, aber sie kaufen nur ungefähr so viel wie im vergangenen Jahr oder im Jahr davor. Damit die Maschine läuft, damit die Wirtschaft wächst, müssen sie mehr kaufen und dann noch mehr, jedes Jahr.

Das aber ist schwierig. Die Märkte sind satt. Hier und da schlucken sie noch ein besonders kluges Smartphone, einen besonders schicken Laptop. Mehr geht nicht mehr hinein.

Eigentlich wundervoll. Satt sein. Das jedenfalls glaubte ein berühmter Wirtschaftswissenschaftler. Er wagte sich an etwas, das selten gelingt: eine Vorhersage der fernen Zukunft. Er prophezeite, dass seine Enkel, wenn sie einst erwachsen seien, achtmal so viel Reichtum angehäuft haben würden wie seine eigene Generation. Er sagte ferner voraus, dass in dieser Welt des Reichtums alle wesentlichen Bedürfnisse gedeckt sein würden. Die Wirtschaft würde aufhören zu wachsen, der Kapitalismus würde seine Aufgabe, den Mangel zu überwinden, erfüllt haben. Die Menschen würden zufrieden sein.

Der Wirtschaftswissenschaftler, der das prognostizierte, ist der Brite John Maynard Keynes. Er beschrieb diese Sicht in dem Essay Wirtschaftliche Aussichten für unsere Enkel. Das war im Jahr 1930. Die Enkel sind wir.

Tatsächlich ist das Pro-Kopf-Einkommen in den hoch entwickelten Industrieländern seit damals fast um das Achtfache gestiegen. Tatsächlich ist das Wirtschaftswachstum weitgehend zum Erliegen gekommen. Tatsächlich dürften das viele Leute als gar nicht so unangenehm empfinden. Die persönliche Lebenszufriedenheit wächst in Ländern wie Deutschland oder Amerika schon lange nicht mehr, irgendwann in den siebziger Jahren hat sie aufgehört zu steigen, bei einem Besitz von 6.000 Dingen vielleicht oder 7.000. Was danach noch gewachsen ist, ist die Zahl der Burn-out-Fälle, der Tablettensüchtigen, der psychisch Kranken. Da hört sich Kapitalismus ohne Wachstum nicht schlecht an. Es klingt wie: Wohlstand ohne Stress.

Finanzen, Banken, Schulden – das Problem ist das fehlende Wachstum

Wenn man dann noch die Einkommen ein wenig gleichmäßiger verteilt, die bestehende Arbeit auf alle umlegt, sodass jeder etwas zu tun hat, dann können sich die Bewohner der Moderne darauf beschränken, zu genießen, was sie haben. So malte Keynes sich das aus. Er dachte, die kapitalistische Maschine ließe sich abschalten. Er glaubte, das System ließe die Leute in Ruhe.

Um zu erkennen, warum das nicht geht, genügt es, die Zeitung aufzuschlagen, den Fernseher einzuschalten, ein paar Internetseiten zu öffnen. Man kann dann der Demonstration dieses Trugschlusses beiwohnen, wie einer Aufführung in einem Freilufttheater.

Das Stück, das da seit der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 gegeben wird, heißt Finanzkrise. Es handelt aber nicht von einer Finanzkrise, auch nicht von einer Bankenkrise oder einer Schuldenkrise. Oder es handelt schon davon, aber diese Begriffe beschreiben keine Ursachen, sie beschreiben Folgen.

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