Tauchsieder

Leute, lest Karl Marx!

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Als schonungslosen Kritiker neu entdecken

Karl Marx, der Prophet und Erlöser, war tot, endlich, von seinen Jüngern widerlegt und ins Grab gestoßen - und Karl Marx, der Soziologe, Journalist, Nationalökonom und Geschichtsphilosoph, der schonungslose Kritiker der idealistischen Philosophie und der bürgerlichen Gesellschaft, durfte sein Leben noch einmal von vorn beginnen:

  • Als Revolutionär, der die "versteinerten Verhältnisse" in Deutschland 1844 wie die "offenherzige Vollendung des ancien régime" empfand; der das "verkehrte Weltbewusstsein" einer Gesellschaft enttarnte, die Gott nach ihrem Bilde formte, um sich von ihm beherrschen zu lassen.
  • Als Philosoph der Tat, der das Reich der Vernunft "von der Erde zum Himmel" aufsteigen ließ, um gegen die idealistischen "Gedankenhelden" seiner Zeit "die Wahrheit des Diesseits zu etablieren". 
  • Als politischer Unruhestifter, der auf dem Höhepunkt des Manchester-Kapitalismus die "Proletarier aller Länder" aufrief, sich gegen ihr "Zwangsarbeiter"-Dasein zu Diensten kapitalistischer Ausbeuter aufzulehnen. 
  • Und natürlich als bärtiger Gelehrter, der in "Das Kapital" die Funktionsweise der modernen Wirtschaft sezierte.

Marx war mit dem Untergang des Kommunismus als Prophet und Messias erledigt, wie schön - aber nur, um als Chefanalytiker der "Bourgeois-Epoche" in den Olymp der Ideengeschichte aufzusteigen. Und dort gebührt dem Trierer Volksfreund heute ein Ehrenplatz.

Der Ökonom Joseph Schumpeter hat das Betriebsgeheimnis von Marx' zwiespältig-phänomenalem Welterfolg bereits 1942 entschlüsselt. Die drei zentralen Utopien (Verelendung des Proletariats, Untergang des Kapitalismus, Sieg des Sozialismus) verdankten sich vor allem Marx’ wissenschaftlichem Ehrgeiz: Er habe nicht nur zu revolutionären Ergebnissen kommen, sondern die historische Notwendigkeit der Revolution beweisen wollen. Deshalb, so Schumpeter, mobilisierte er das Proletariat als geschlossene Klasse: Denn wenn es stimmte, dass "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft" die "Geschichte von Klassenkämpfen ist", wie Marx 1848 im Kommunistischen Manifest behauptete, dann brauchte es auch für das letzte Kapitel  "Unterdrücker und Unterdrückte“, zwei unversöhnliche Gegner, die sich feindlich gegenüberstehen - zwei Menschenblöcke, die die soziale Dynamik der Geschichte aufrechterhalten und sich bekriegen, bis endlich das sozialistische Morgenrot aufscheint: Bourgeoisie und Proletariat.

Doch wie wollte Marx die Zeitgenossen von seiner bipolaren Gesellschaftskonstruktion überzeugen?

Marx hat seinen Verehrern ein Arsenal "weißglühender Phrasen, leidenschaftlicher Anklagen und zorniger Gesten" (Schumpeter) zur Verfügung gestellt, aber das ist es nicht: Sein Erfolg gründet sich auf der kühnen Kombination rationalistischer, deterministischer und eschatologischer Motive.

Anders gesagt: Die Notwendigkeit der Revolution hat bei Marx eine dreifache Dimension. Sie ergibt sich erfahrungsgemäß aus der Analyse sozialer Tatsachen. Sie ist als logische Folge historischer Prozesshaftigkeit konzipiert. Und sie adressiert die (verlorene) Ganzheitshoffnung einer durch maschinelle Beschleunigung, Arbeitsteilung und unpersönliche Geldverhältnisse sich selbst fremd gewordenen Menschheit.

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