Tauchsieder

Großer Denker, großes Werk

Seite 2/3

Die Industrielle Revolution: eine „Teufelsmühle“

Kein Wunder also, dass Polanyi bis heute keinen Einfluss auf die Mehrheit der neoklassischen Ökonomen hat – und dass er sich unter Soziologen seit Ausbruch der Finanzkrise (wieder) umso größerer Beliebtheit erfreut. Das ist gleich doppelt schade, weil es sich bei Polanyi um einen wundervollen Autor handelt, der weder Ignoranz noch übertriebene Inanspruchnahme verdient hat. Statt dessen ist The Great Transformation das Musterbeispiel für ein Buch, das einerseits zur Pflichtlektüre für alle angehenden Volkswirtschaftler erhoben werden sollte – und das sich andererseits nicht eignet als Zitatenschatz von passionierten Kapitalismuskritikern mit erkennbar gegenwartspolitischen Absichten.

Polanyi, aufgewachsen in der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig), im Wien und Budapest des Fin de siècle, hat The Great Transformation 1944 geschrieben, nach dem Zusammenbruch des langen 19. Jahrhunderts und seinen bürgerlichen Wertvorstellungen, unter dem unmittelbaren Eindruck von Börsenkrach, Weltwirtschaftskrise und Großer Depression, von Nazismus, Weltkrieg, Barbarei – und in der Hoffnung auf eine bessere Zeit. Das allein erklärt die zeittypische Kraft seiner Ausdrücke und die Dramatik seiner Thesen, wie man sie auch bei Werner Sombart, Max Weber oder Oswald Spengler antrifft.

Die Industrielle Revolution zum Beispiel beschreibt  Polanyi als „Teufelsmühle“, die „die Menschen zu formlosen Massen zermahlte“ – in Schwung gebracht von einer Religion gewordenen Ideologie, die die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts mit „mystischer Bereitschaft“ akzeptierte: „Ein blinder Glaube an den spontanen Fortschritt hatte die Gehirne der Menschen erfasst, und die Aufgeklärtesten setzten sich mit dem Fanatismus von Sektierern für unbegrenzte und unkontrollierte gesellschaftliche Veränderungen ein.“

Polanyi macht es seinen Lesern nicht leicht. Sein Text ist ein Hybrid, der wirtschaftshistorische Analyse mit scharfer Polemik mischt, der einige Schleifen zieht und manche Gedanken mehrere Kapitel lang unterbricht – und in dem Polanyi mal induktiv, mal deduktiv argumentiert, meist in deskriptiver Absicht, aber nie wertneutral: The Great Transformation ist im typischen Stil der Zeit geschrieben, in erkennbar zeitgeistiger Nachbarschaft zu Joseph Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1942), zu Friedrich August von Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944), Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) und natürlich auch zur „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1944).

Auf die Zeilen all dieser Werke fällt der nachtschwarze Schatten des Terrors und der Apokalypse; sie alle sind nur verständlich, wenn man sie (auch) als Albtraum vom Untergang des Humanismus und von der Selbstunterwerfung alles Mensch(lich)en unter Systeme und Ideologien liest. Schumpeter etwa sah den Sozialismus damals tragisch siegen über die „zerstörenden“ und „zersetzenden“ Kräfte des Kapitalismus. Hayek war, kaum schien der Sieg der Alliierten in Reichweite, allen Ernstes der Auffassung, dass das Abendland durch die Despotie des demokratischen Wohlfahrtsstaates untergehen würde. Popper fürchtete sich angesichts des Faschismus so sehr vor der „Herrschaft der Mehrheit“, dass er den unschuldigen Platon als Nestor des kollektivistischen Denkens auf die Anklagebank setzte. Horkheimer und Adorno schließlich sahen durch den Siegeszug der „instrumentellen Vernunft“ gleich das ganze Projekt der Aufklärung vor die Wand (ge)fahren, weil der „Fortschritt“ dieser „Aufklärung“ die jeweils bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bloß noch affirmiere, statt sie einredend zu befragen.

In diesem Kontext also hat Karl Polanyi seine Great Transformation geschrieben. Und in diesem Kontext ist sein Buch sozusagen das fünfte Kronjuwel: eine unterschätzte, immer noch weitgehend ungelesene Untersuchung über die zerstörerischen Kräfte von Ideologien, über die Kraft systemischer Logiken, die Wucht soziokultureller Transformationsprozesse. Ein Werk, das (wie die anderen vier) nicht zu begreifen ist ohne Kenntnis seiner Entstehungsbedingungen, und das zugleich (wie die anderen vier) auch 75 Jahre nach seinem Erscheinen noch von anregender Relevanz ist. 

Worum also geht es in „The Great Transformation„? Nun, Polanyi beschreibt das „frivole Experiment“ der Kommodifizierung von Land, Kapital und Arbeit im England des 18. und 19. Jahrhunderts und die allmähliche Durchsetzung (der Idee) eines selbstregulierenden Marktes – ein Prozess, den er Mitte des 19. Jahrhunderts für abgeschlossen, in seinen unmittelbaren (sozialen) und weiteren (weltpolitischen) Folgen für eine Katastrophe hält. Im Unterschied zu allen früheren Gesellschaften, argumentiert Polanyi, seien die wirtschaftlichen Märkte in der modernen Marktgesellschaft nicht mehr „eingebettet“ („embedded“) in die Gesellschaft und ihre sozialen Institutionen, nicht mehr verwachsen und verwoben mit dem Alltagsleben der Menschen. Während die „marktlosen“ Gesellschaften der Vorzeit von „nichtökonomischen Motiven“ – gesellschaftlicher Rang, gemeinsame Wertvorstellungen - getragen gewesen seien, kreise (allein) die „Marktgesellschaft“  der Moderne um das Motiv des Gewinnstrebens.

Die Grundlage für diese Great Transformation, so Polanyi, sei keineswegs eine Sache friedlich handelnder Kaufleute gewesen. Stattdessen beschreibt er erstens eine gezielte Landnahme der bürgerlichen Schicht, die Polanyi im Sinne des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau als ursprünglichen Raub interpretiert, dem alle modernen Herr-und-Knecht-Verhältnisse zugrundeliegen – denn er beschreibt zweitens das anschließende Zur-Ware-Werden der Arbeit landloser Pauper in den englischen Manufakturen und Fabriken. Seither, so Polanyi, sei „der Produktionsprozess selbst in Form von Kauf und Verkauf organisiert“, so Polanyi. Seither würden Natur und Mensch in Preisen ausgedrückt und als Waren behandelt. Seither sei das ökonomische System keine Funktion der gesellschaftlichen Selbstorganisation mehr, sondern umgekehrt: die Gesellschaft eine Funktion der wirtschaftlichen Ordnung und ökonomischen Logik - ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger Vorgang. 

Der „Philosophie des Liberalismus“ wirft Polanyi vor, „nirgends so offensichtlich versagt“ zu haben „wie in der Auffassung vom Wesen der Veränderung“. In Einklang mit Lew Tolstoi und Georg Simmel, die er vermutlich beide nicht studiert hat, liest Polanyi den Siegeszug des Geldes als Geschichte eines Infektes: Alles, was mit ihm in Berührung kommt, sodann taxiert und verpreislicht werden kann, gerät notwendig in den Herrschaftsbezirk des Geldes und sinkt damit vom absoluten Gut zum relativen Wert hinab: Seither wird die Natur „Land“ genannt und der Mensch für seine „Arbeit“ abgeschätzt. 

Diesen Epochenbruch, diesen mit Blick auf die Annexionen ferner Länder und die Unterwerfung fremder Kulturen auch höchst gewalttätigen Prozess mit seinen tiefgreifenden sozialen Verwerfungen und lebenskulturellen Entwurzelungen als evolutionären Prozess, als der tauschbereiten Natur des Menschen entsprechende Fortschrittserzählung gedeutet, sie aus Profitinteresse auch verharmlost, ja: verheiligt zu haben, hält Polanyi für eine intellektuelle Bankrotterklärung oder für zynisch – oder für beides.

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