Tauchsieder

Keynes ist tot. Es lebe - ja was?

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Ein Wirtschaftssystem, das systematisch den Preis des Geldes manipuliert

Alfred Müller-Armack präzisiert acht Jahre später, was Rougier genau damit meint - und welche Art von Intervention sich der Staat unbedingt versagen müsse: Ein freier Wettbewerbsmarkt, so der Urheber des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“, setze „ein streng gegen allzu große Expansion abgeriegeltes Geld- und Kreditsystem voraus“. Müller-Armack warnt, im Rückgriff auf den Ökonomen Adolf Weber, vor einem „Vordringen der manipulierten Währungen“. Die Geldseite müsse „als das Gegenbild der Güterseite eine… gegenläufige Ordnung erfahren“. Die historische Erfahrung habe „oft genug gezeigt, wie schnell ein Wettbewerbsmarkt durch übersteigerte Expansion auf der Geldseite in seinem inneren Gefüge völlig aufgelöst werden kann“.

Keynes muss darüber nicht belehrt werden. Er rät vom Sparen in Krisenzeiten ab, um Güternachfrage, Einkommen und Beschäftigung zu stützen. Und er fürchtet auch keine Zunahme der Geldmenge, solange Menschen noch Arbeit suchen, also keine Inflationsgefahr droht. Er ist ein herausragender Theoretiker des Ausnahmezustands, ein überragender Anti-Austeritäts-Ökonom, ein Wirtschaftswissenschaftler der Impuls-Intervention, „timely, targeted, temporary“, wie es seit der Finanzkrise 2008 so schön heißt, also rechtzeitig, zielgenau und zeitlich begrenzt - und bestenfalls auch „transformative“, also nicht an die Vergangenheit verschwendet, sondern mit Blick auf das Wachstum von morgen.

von Malte Fischer, Bert Losse

Aber natürlich ist es für Keynes damals noch ganz selbstverständlich, dass der Staat nach der Überwindung einer Krise die Steuern erhöht, um seine Schulden auch wieder einzutreiben. Er ist ein Ökonom, der - wie die Neoliberalen und sein intellektueller Sparringspartner Joseph Schumpeter - nicht mehr in wirtschaftlichen Gleichgewichten, ganz gewiss aber noch theoretisch anspruchsvoll, in anpassungsfähigen Ordnungen denkt. Entsprechend fundiert übrigens auch Franklin D. Roosevelt seinen „New Deal“ auf den „drei Rs“: Entlastung der Armen („Relief“), Erholung der Wirtschaft („Recovery“) - und Neuordnung des Finanzsystems („Reform“).

Im Blick zurück auf Rüstow und Röpke, Rougier und Keynes erscheinen die vielen (überwiegend positiven) Bewertungen der neuen Konjunkturpakete und Kreditprogramme dieser Tage theoretisch erschreckend unvollständig: Der Wirtschaftsweise Lars Feld sieht „viel Licht“, wenn er sich das neue 130-Milliarden-Paket der Bundesregierung ansieht. IW-Direktor Michael Hüther attestiert „wichtige Impulse“ und eine „soziale Balance“. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum lobt die Umwidmung der Überbrückungshilfen in „echte Solvenzhilfen“ für kleine und mittelständische Unternehmen. Das alles ist, für sich genommen, mikroökonomisch und augenblicksaktuell, womöglich nicht falsch - so wenig womöglich die Kritik falsch ist, die sich am schieren Ausmaß der Berliner Füllhornpolitik und an Defiziten ihrer Zielgenauigkeit entzündet, an der Adressierung von Konsumenten, Angestellten, E-Auto-Käufern (und nicht etwa von fahrradfahrenden Solo-Selbstständigen in den Städten…) - oder auch nur an einzelnen Maßnahmen, etwa an einer Mehrwertsteuersenkung, von der womöglich der US-Konzern Amazon überproportional profitiert.

Wirtschaftsordnung auf Basis kontrollierten Bankrotts?

Das Problem ist nur: Man gewinnt den Eindruck, die Beispiellosigkeit der Krise und die Beispiellosigkeit der politischen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung korrespondiert mit der Beispiellosigkeit eines eklatanten Theoriedefizits in der Volkswirtschaftslehre: Welche Ordnung folgte der Ordnungspolitik? Wie sähen die Grundzüge eines Wirtschaftssystems aus, das mit dem Preis des Geldes systematisch den Preis aller Preise, also den Preis an sich manipuliert? Welche Zukunft ließe sich gewinnen mit einer Wirtschaftsordnung, die Schulden verewigt, also auf der Basis des kontrollierten Bankrotts floriert? Wie ließe sich „gesundes Wachstum“ in einer Wirtschaftsordnung vorstellen, deren Wurzeln mit Geld gewässert werden, das aus dem Nichts geschöpft wird, billig ist und vor allem ausgegeben werden soll? Und welchen „freien Wettbewerb“ garantierte wohl eine Wirtschaftsordnung, in der Regierungen, Notenbanken und Finanzmärkte informelle Souveränitätsreservate ausbilden, um im Dauerkrisenmodus Milliarden-Schutzschirme für sich selbst, Banken und Vermögende aufzuspannen, die ihr Geld gewohnheitsmäßig dorthin umschichten, wo es sich bis zum Eintreffen der nächsten Krise gewinnbringend konzentriert, sagen wir: von der „Lufthansa“ in Richtung „Plattformkonzern“, während der Steuerbürger der taumelnden Luftfahrt zu Hilfe eilt - und die weitgehend eigentumslose Bevölkerung mit 300 Euro Sonderkindergeld kalmiert wird?

This time seems really different“, möchte man in Anlehnung an einen Buchtitel von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff der Ökonomenzunft zurufen - aber was hieße das? Auch Deutschland kurbelt endlich seine Nachfrage an - was hat Europa davon? Auch Deutschland bereichert sich endlich auf Basis von Schulden, die nichts kosten - wer begleicht die Rechnung? Im Blick zurück, gleichsam auf paläo-Rüstow und paläo-Keynes, sind diese Fragen schon lange nicht mehr zu beantworten. Fürs Erste wäre schon viel gewonnen, wenn die Ökonomen heute anfingen, sie aufzuwerfen. Wer wagt einen Aufschlag - einen neo-neo-liberalen Ordnungsruf?

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