Tauchsieder
Die Welt im Wandel: Wir haben es erneut mit einer „Great Transformation“ zu tun. Quelle: imago images

Großer Denker, großes Werk

Karl Polanyi hat das Buch des Jahres 2019 geschrieben – vor 75 Jahren. Die Herausforderung China, der Aufstieg des Populismus, die Digitalisierung der Wirtschaft – keine Frage: Wir haben es erneut mit einer „Great Transformation“ zu tun.

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Alle Autoren haben ihre Zeit. Jetzt ist die Zeit von Karl Polanyi (1886 – 1964). Endlich. Gleich drei Veröffentlichungen in den vergangenen Wochen nehmen produktiv Bezug auf Polanyi, der der Welt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren ein großes Buch schenkte: The Great Transformation. Der Osteuropa-Historiker Philipp Ther erweist Polanyi bereits im Untertitel seiner jüngsten Aufsatzsammlung „Das andere Ende der Geschichte“ seine Referenz, in dem er sich vor dessen Hauptwerk verneigt („Über die Große Transformation“). Der Soziologe Andreas Reckwitz, vor zwei Jahren Autor der wichtigen Studie „Gesellschaft der Singularitäten“, greift in seiner neuen Essaysammlung auf Polanyi zurück, um die „Krise des Liberalismus“ analytisch in den Griff zu bekommen. Und der Soziologe Philipp Staab kommt nicht umhin, sich in seiner grundlegenden Analyse des „Digitalen Kapitalismus“ auf Polanyi zu beziehen.

Der Grund für die breite Wiederentdeckung ist denkbar einfach. Nach der Finanzkrise 2008/9 lag es nahe, sich Polanyis Theorie einer „eingebetteten Marktwirtschaft“ erneut zu erinnern: Man kann „The Great Transformation„ als Absage an die Mythen der klassischen Nationalökonomie lesen, als Entheiligung des Marktglaubens, als Entmystifikation des angloamerikanischen (Neo-Neo-)Liberalismus der Zwanziger- Neunziger- und Nullerjahre  – und als Plädoyer für eine Wirtschaft, die nicht der Gesellschaft ihre Bedingungen diktiert, sondern produktiv in ihr „eingelassen“ („embedded“) ist – zum Wohle der Menschen.

Aber „The Great Transformation“ erschöpft sich eben nicht in kluger Kapitalismuskritik. Polanyi hat auch eine allgemeinpolitische Studie geschrieben über die „Dialektik zwischen dem Prinzip des freien Markts und dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft“ (Ther) – und eine praxisphilosophische Studie über Übergangsphasen, die der marxistische Philosoph und Revolutionspädagoge Antonio Gramcsi einmal so prägnant auf den Begriff hat: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Ther und Reckwitz nutzen Polanyis Denkfigur des double movements, der Doppelbewegung: das „polanyische Pendel“ (Ther), um historische und politische Entwicklungen in den liberalen Demokratien des Westens, das Changieren zwischen Liberalismus (Entbindung, Freiheit, Deregulierung) und Sozialdemokratie (Schutz, Sicherheit) nachzuzeichnen – und um den Wert eines „einbettenden Liberalismus“ (Reckwitz) herauszustreichen. Reckwitz geht aber dann noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er überträgt die Theorie des „Paradigmenwechsels“ von Thomas S. Kuhn auf die politische Welt, situiert die Dominanz eines Diskurses mit Michel Foucault als herrschende „Ordnung des Denkbaren und Sagbaren“ – und diagnostiziert nach dem „sozial-korporistischen Paradigma“ der Wirtschaftswunderzeit und dem „Paradigma eines apertistischen („öffnenden“) Liberalismus der Milton-Friedman-Ronald-Reagan-Margaret-Thatcher-Ära nun eine „Great Transformation“ hin zum Guten: zu einem „einbettenden Liberalismus“, in dem die Menschen sich geborgen fühlen und nicht mehrheitlich auf die Idee verfallen, sich in die Arme von Populisten zu werfen.

Doch auch mit Reckwitz sind die Möglichkeiten, Polanyis Werk in analogischer Absicht neu zu lesen, noch nicht erschöpft. Denn was, wenn die eigentliche „Great Transformation„ dieser Tage sich nicht mehr als „double movement“ von Politik und Wirtschaft vollzöge, sondern im Wesentlichen von privatisierten Märkten der Gafa-Unternehmen bestimmt würde (Staab)? Oder wenn sie in der „Asiatisierung der Welt“ bestünde, wie sie Kishore Mahbubani und  Parag Khanna, zwei Politologen aus Singapur, uns in ihren jüngsten Büchern und Aufsätzen vor Augen führen? Wenn das Wort der „embeddedness“ plötzlich eine technokratische, staatskapitalistische Konnotation annähme – und einen Korporatismus meinte, ein effizientes Ökosystem von konzentrierten Macht- Geld- und Wirtschaftsinteressen, das der reinen Marktlehre des Westens Hohn spricht, auf demokratische Prozeduren verzichtet – aber erfolgreich Wohlstand erzeugt, etwa in China? 

Ich werde diese Fragen im Rahmen dieser Kolumne in den nächsten Wochen immer mal wieder aufwerfen und diskutieren. Aber zunächst müssen wir klären, auf wen und was wir dabei Bezug nehmen. Also: Wer war Karl Polanyi – und warum hat er das Buch des Jahres 2019 geschrieben? 

von Stefan Reccius, Malte Fischer, Jörn Petring, Julian Heißler, Sven Böll, Dieter Schnaas

Es ist vor allem dieser eine ungeheuerliche Satz, der sich sofort ins Gedächtnis gräbt, den man nie mehr loswird, der einem schier den Atem raubt, auch noch nach Jahren, beim Wiederlesen, bei der zweiten und dritten Lektüre – und dieser Satz geht so: „Wenn wir den deutschen Faschismus verstehen wollen, müssen wir uns dem England (David) Ricardos zuwenden.“ Karl Polanyi hat ihn geschrieben, ein ungarisch-österreichischer Wirtschaftsjournalist, ein englisch-amerikanischer Professor für Politische Ökonomie, ein kanadischer Kulturanthropologe – das alles war er. Und nachzulesen ist der Satz in seinem Hauptwerk The Great Transformation aus dem Jahr 1944, am Ende des ersten Teiles, in dem der Autor einen Blick vorauswirft auf den 250 Seiten langen Beweis seiner verstörenden These: Die Ursprünge des Weltzusammenbruchs 1929/45 lagen im „religiösen Eifer des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems“.

Fast alles, was klassisch denkenden Ökonomen bis auf den heutigen Tag anbeten, hat Polanyi damals als „economistic prejudice“ angezweifelt und als verdorbene Frucht eines „kruden Utilitarismus“ gemaßregelt: die Vorstellung von einem harmonischen Markt, auf dem Individuen ihre  Interessen verfolgen und damit zugleich dem Gemeinwohl dienen. Montesquieus Doux-Commerce-These, nach der friedlich handelnde Völker kein Interesse an der Pflege von Feindschaften und bellizistischen Auseinandersetzungen mehr entwickeln. Das Paradigma von atomistisch denkenden und handelnden Individuen, die unabhängig von sozialen Kontexten aufgeklärt, selbstbestimmt und vernünftig entscheiden (homo oeconomicus). Und natürlich auch den Irrglauben, beim Markt- und Wettbewerbsdenken handle es sich eine natürliche Eigenschaft des Menschen, um eine zeit- und kulturen-übergreifende, anthropologische Konstante – und nicht um ein kulturelles Produkt der Moderne.

Die Industrielle Revolution: eine „Teufelsmühle“

Kein Wunder also, dass Polanyi bis heute keinen Einfluss auf die Mehrheit der neoklassischen Ökonomen hat – und dass er sich unter Soziologen seit Ausbruch der Finanzkrise (wieder) umso größerer Beliebtheit erfreut. Das ist gleich doppelt schade, weil es sich bei Polanyi um einen wundervollen Autor handelt, der weder Ignoranz noch übertriebene Inanspruchnahme verdient hat. Statt dessen ist The Great Transformation das Musterbeispiel für ein Buch, das einerseits zur Pflichtlektüre für alle angehenden Volkswirtschaftler erhoben werden sollte – und das sich andererseits nicht eignet als Zitatenschatz von passionierten Kapitalismuskritikern mit erkennbar gegenwartspolitischen Absichten.

Polanyi, aufgewachsen in der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig), im Wien und Budapest des Fin de siècle, hat The Great Transformation 1944 geschrieben, nach dem Zusammenbruch des langen 19. Jahrhunderts und seinen bürgerlichen Wertvorstellungen, unter dem unmittelbaren Eindruck von Börsenkrach, Weltwirtschaftskrise und Großer Depression, von Nazismus, Weltkrieg, Barbarei – und in der Hoffnung auf eine bessere Zeit. Das allein erklärt die zeittypische Kraft seiner Ausdrücke und die Dramatik seiner Thesen, wie man sie auch bei Werner Sombart, Max Weber oder Oswald Spengler antrifft.

Die Industrielle Revolution zum Beispiel beschreibt  Polanyi als „Teufelsmühle“, die „die Menschen zu formlosen Massen zermahlte“ – in Schwung gebracht von einer Religion gewordenen Ideologie, die die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts mit „mystischer Bereitschaft“ akzeptierte: „Ein blinder Glaube an den spontanen Fortschritt hatte die Gehirne der Menschen erfasst, und die Aufgeklärtesten setzten sich mit dem Fanatismus von Sektierern für unbegrenzte und unkontrollierte gesellschaftliche Veränderungen ein.“

Polanyi macht es seinen Lesern nicht leicht. Sein Text ist ein Hybrid, der wirtschaftshistorische Analyse mit scharfer Polemik mischt, der einige Schleifen zieht und manche Gedanken mehrere Kapitel lang unterbricht – und in dem Polanyi mal induktiv, mal deduktiv argumentiert, meist in deskriptiver Absicht, aber nie wertneutral: The Great Transformation ist im typischen Stil der Zeit geschrieben, in erkennbar zeitgeistiger Nachbarschaft zu Joseph Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1942), zu Friedrich August von Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944), Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) und natürlich auch zur „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1944).

Auf die Zeilen all dieser Werke fällt der nachtschwarze Schatten des Terrors und der Apokalypse; sie alle sind nur verständlich, wenn man sie (auch) als Albtraum vom Untergang des Humanismus und von der Selbstunterwerfung alles Mensch(lich)en unter Systeme und Ideologien liest. Schumpeter etwa sah den Sozialismus damals tragisch siegen über die „zerstörenden“ und „zersetzenden“ Kräfte des Kapitalismus. Hayek war, kaum schien der Sieg der Alliierten in Reichweite, allen Ernstes der Auffassung, dass das Abendland durch die Despotie des demokratischen Wohlfahrtsstaates untergehen würde. Popper fürchtete sich angesichts des Faschismus so sehr vor der „Herrschaft der Mehrheit“, dass er den unschuldigen Platon als Nestor des kollektivistischen Denkens auf die Anklagebank setzte. Horkheimer und Adorno schließlich sahen durch den Siegeszug der „instrumentellen Vernunft“ gleich das ganze Projekt der Aufklärung vor die Wand (ge)fahren, weil der „Fortschritt“ dieser „Aufklärung“ die jeweils bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bloß noch affirmiere, statt sie einredend zu befragen.

In diesem Kontext also hat Karl Polanyi seine Great Transformation geschrieben. Und in diesem Kontext ist sein Buch sozusagen das fünfte Kronjuwel: eine unterschätzte, immer noch weitgehend ungelesene Untersuchung über die zerstörerischen Kräfte von Ideologien, über die Kraft systemischer Logiken, die Wucht soziokultureller Transformationsprozesse. Ein Werk, das (wie die anderen vier) nicht zu begreifen ist ohne Kenntnis seiner Entstehungsbedingungen, und das zugleich (wie die anderen vier) auch 75 Jahre nach seinem Erscheinen noch von anregender Relevanz ist. 

Worum also geht es in „The Great Transformation„? Nun, Polanyi beschreibt das „frivole Experiment“ der Kommodifizierung von Land, Kapital und Arbeit im England des 18. und 19. Jahrhunderts und die allmähliche Durchsetzung (der Idee) eines selbstregulierenden Marktes – ein Prozess, den er Mitte des 19. Jahrhunderts für abgeschlossen, in seinen unmittelbaren (sozialen) und weiteren (weltpolitischen) Folgen für eine Katastrophe hält. Im Unterschied zu allen früheren Gesellschaften, argumentiert Polanyi, seien die wirtschaftlichen Märkte in der modernen Marktgesellschaft nicht mehr „eingebettet“ („embedded“) in die Gesellschaft und ihre sozialen Institutionen, nicht mehr verwachsen und verwoben mit dem Alltagsleben der Menschen. Während die „marktlosen“ Gesellschaften der Vorzeit von „nichtökonomischen Motiven“ – gesellschaftlicher Rang, gemeinsame Wertvorstellungen - getragen gewesen seien, kreise (allein) die „Marktgesellschaft“  der Moderne um das Motiv des Gewinnstrebens.

Die Grundlage für diese Great Transformation, so Polanyi, sei keineswegs eine Sache friedlich handelnder Kaufleute gewesen. Stattdessen beschreibt er erstens eine gezielte Landnahme der bürgerlichen Schicht, die Polanyi im Sinne des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau als ursprünglichen Raub interpretiert, dem alle modernen Herr-und-Knecht-Verhältnisse zugrundeliegen – denn er beschreibt zweitens das anschließende Zur-Ware-Werden der Arbeit landloser Pauper in den englischen Manufakturen und Fabriken. Seither, so Polanyi, sei „der Produktionsprozess selbst in Form von Kauf und Verkauf organisiert“, so Polanyi. Seither würden Natur und Mensch in Preisen ausgedrückt und als Waren behandelt. Seither sei das ökonomische System keine Funktion der gesellschaftlichen Selbstorganisation mehr, sondern umgekehrt: die Gesellschaft eine Funktion der wirtschaftlichen Ordnung und ökonomischen Logik - ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger Vorgang. 

Der „Philosophie des Liberalismus“ wirft Polanyi vor, „nirgends so offensichtlich versagt“ zu haben „wie in der Auffassung vom Wesen der Veränderung“. In Einklang mit Lew Tolstoi und Georg Simmel, die er vermutlich beide nicht studiert hat, liest Polanyi den Siegeszug des Geldes als Geschichte eines Infektes: Alles, was mit ihm in Berührung kommt, sodann taxiert und verpreislicht werden kann, gerät notwendig in den Herrschaftsbezirk des Geldes und sinkt damit vom absoluten Gut zum relativen Wert hinab: Seither wird die Natur „Land“ genannt und der Mensch für seine „Arbeit“ abgeschätzt. 

Diesen Epochenbruch, diesen mit Blick auf die Annexionen ferner Länder und die Unterwerfung fremder Kulturen auch höchst gewalttätigen Prozess mit seinen tiefgreifenden sozialen Verwerfungen und lebenskulturellen Entwurzelungen als evolutionären Prozess, als der tauschbereiten Natur des Menschen entsprechende Fortschrittserzählung gedeutet, sie aus Profitinteresse auch verharmlost, ja: verheiligt zu haben, hält Polanyi für eine intellektuelle Bankrotterklärung oder für zynisch – oder für beides.

Über den „sozialen Mahlstrom“ des Kapitalismus

Besonders eindrücklich gelingt Polanyi die Dekonstruktion einer anderen liberalen Fiktion: die Fiktion vom „Staat“, der den „Markt“ an der Entfaltung seiner segenbringenden Kräfte hindert (Hayek). Polanyi zeigt, dass die Befreiung des Marktes von Anfang als „Doppelbewegung“  stattgefunden hat (ein weiterer zentraler Begriff seines Werkes): als (staatliche) Entbindung der Marktgesellschaft und ihre gleichzeitige Regulierung. Dass dieser Befund für jeden Historiker und Soziologen trivial ist, kann man Polanyi nicht vorwerfen; er ist zu Recht der Auffassung, der klassischen Nationalökonomie auch noch das Allerersichtlichste vor Augen führen zu müssen: Die Entstehung des Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert war im Wesentlichen eine Folge von Staatseingriffen, die die Protektion der (heimischen) Industrien zum Ziel hatten und den „Wohlstand der Nationen“ bürokratisch stützten. Die Ausbreitung des Kapitalismus und seine staatlich-institutionelle Absicherung, weist Polanyi nach, waren zwei Vektoren der gleichen Bewegung. Der Markt und der (Rechts)-Staat wuchsen, nicht zuletzt zur Durchsetzung von property rights, einträchtig, Hand in Hand. 

Die politischen und ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts deutet Polanyi anschließend als Erscheinungsformen dieser Doppelbewegung: „Während man im 19. Jahrhundert glaubte, ein liberales Utopia zu errichten, übertrug man in Wirklichkeit die Dinge einer bestimmten Anzahl konkreter Institutionen, deren Mechanismus das Tagesgeschehen beherrschte“: der liberale Staat, das internationale Kräftegleichgewicht, der Goldstandard. Es waren Institutionen und Mechanismen, die das Funktionieren der westlichen Marktgesellschaften sicherstellten – und die 1929/45, nach der „Entbettung“ des Marktes aus seinen sozialen Kontexten, ihren Dienst quittierten. Die Folgen sind bekannt. Und die Schlussfolgerung ist für Polanyi klar: „Wenn wir den deutschen Faschismus verstehen wollen, müssen wir uns dem England (David) Ricardos zuwenden.“

Die Kritik hat Polanyi gern auf kaltem Wege erledigt: Seine historische Analyse, so heißt es immer wieder, sei ihrerseits unhistorisch und romantisch noch dazu: Als stellten alle früheren Kulturen und primitiven Gesellschaften, deren Erforschung Polanyi in den Fünfzigerjahren im Anschluss an Marcel Mauss viel Zeit widmete, allein auf Geschenk und Gabe, auf einfache Bedürfnisbefriedigung, Altruismus und funktionierende Sozialbeziehungen ab – welch ein Unsinn! Man kann Polanyi diesen Vorwurf nicht ersparen. Nur reicht sie zu seiner Disqualifikation nicht hin.

Dass frühere Formen des Tauschhandels deutlich fester in das Sozialgefüge einer Gesellschaft eingebettet waren und dass der Siegeszug der Marktgesellschaft mit ihrem Gewinnstreben und ihrer auf die Kunstfigur des homo oeconomicus abgerichteten Logik das interpersonale Beziehungsnetz durchlöchert hat, wird nicht mal von liberalen Denkern bestritten. Alexis de Toqueville, John Staurt Mill, Joseph Schumpeter, Ralf Dahrendorf – sie alle waren sich mit Polanyi einig, dass der Kapitalismus von (religiösen, moralischen, kulturellen) Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Mit „Einbettung“ hat Polanyi diesen Gedanken – heute aktueller denn je – auf einen einprägsamen Begriff gebracht.

Doch Metaphern sind nicht alles, was von Polanyi bleibt. Seine „Great Transformation“ war, ist und bleibt ein Stachel im Fleisch der Nationalökonomie – solange, bis sie endlich wieder anfängt, sich im Sinne eines Max Weber oder Joseph Schumpeter als moral science zu verstehen. Das aber würde bedeuten, dass sie ihrem methodologischen Individualismus abschwört und Menschen nicht mehr wahlweise wie Rationalitätsmonster (klassische Theorie) oder Reizreaktionsmaschinen (Behaviorismus) behandelt. Dass sie als Selbstverständlichkeit annimmt, dass auch nach der „Entbettung“ des Marktes alles menschliche Denken und Tun in eine „kulturell geformte Vorstellungswelt“, in ein „gesellschaftlich produziertes Bewusstsein“ eingebettet, mithin kulturell geprägt und prägend sind.

Natürlich machen Trivialliberale auch das Polanyi sofort zum Vorwurf: Wer so denke, räume der Freiheit des Individuums einen zu geringen Stellenwert ein. Er selbst würde diesen Vorwurf brüsk zurückweisen – und ein Band mit 20 Essays (in Englisch) erhellt, dass die so genannten Liberalen gut beraten wären, nicht das Freiheitsverständnis von Polanyi, sondern ihr eigenes einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Denn „the recognition of the inescapable nature of society“ meint für Polanyi keineswegs, dass die Sache der individuellen Freiheit verloren sei, sondern im Gegenteil: dass sie sich in der Anerkennung und Auseinandersetzung mit einer „komplexen Gesellschaft“ überhaupt erst herausbilde: „There is no means for the individual to escape the responsibilities of chooosing between alternatives“, so Polanyi in einem Aufsatz aus dem Jahre 1938, und: „He or she cannot contract out of society. But the freedom we appear to lose through this knowledge is illusory, while the freedom we gain through it is valid.“

Anders gesagt: Der „soziale Mahlstrom“ des Kapitalismus, in Gang gesetzt und auf Touren gekommen durch Technologie, wirtschaftliche Organisation und Wissenschaft, ist von einer systemischen Evidenz, die heute, allen Reichtumsfolgen zum Trotz, unleugbarer denn je ist – und gegen die Polanyi, ganz im Sinne amerikanischer Pragmatiker wie George Herbert Mead, das Prinzip der individuellen Freiheit behauptet: Eine andere Welt ist möglich. Polanyi lehnte, der christlichen Soziallehre verpflichtet, das zwecklose Fortschrittspathos der Liberalen genauso ab wie den Geschichtsdeterminismus der Marxisten. Wahrscheinlich war er in Nachkriegsdeutschland so lange vergessen, weil man ihn als Vertreter eines „Dritten Weges“ in den Jahrzehnten der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht wirklich brauchte: Kongruenzen zwischen dem Denken von Karl Polanyi und Wilhelm Röpke jedenfalls sind nicht nur in Ansätzen erkennbar.

Zum Beispiel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1958, in dem Polanyi sich fragt, zu welchem Ende der Westen der Welt den zivilisatorischen Fortschritt geschenkt habe – zu welchem Ende und mit welchen Folgen. Es ist ein Satz, der einem angesichts der Herausforderungen des liberalen Westens durch Autokraten, Rechtskonservative und religiöse Eiferer förmlich in die Glieder fährt, ein Satz, der sich sofort ins Gedächtnis gräbt, den man nie mehr loswird, der einem schier den Atem raubt – und dieser Satz geht so: „That cultural entity, the West, of which the thinkers and writers were the traditional vehicles, is no longer listened to; not on account of a hostile public, as we persuade ourselves to believe, but because it has nothing relevant to say.“ 

Karl Polanyi, The Great Transformation (1944), Suhrkamp 1973, 18 Euro

Karl Polanyi, For a New West, Essays 1918 - 1959, Polity Press (in Englisch) 2014, 24,51 Euro

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