Tauchsieder
Quelle: imago images

Schulden? Tolle Sache!

Die US-Ökonomin Stephanie Kelton sagt: Der Staat kann so viel Geld aus dem Hut zaubern, wie er will. Die Politik muss endlich die schwäbische Hausfrau beerdigen. Und ihre Miesen lieben lernen.

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Sie lesen einen Beitrag aus dem WirtschaftsWoche-Archiv.

Es gibt politische Phrasen, die sind zeitlos, universell, von unbezweifelter Gültigkeit. In einer dieser Phrasen spielt ein Gürtel die Hauptrolle, der unbedingt „enger geschnallt“ werden muss. Oft wird Politkern ja vorgeworfen, sie gingen mit Wahlgeschenken auf Stimmenfang und seien im Geldausgeben groß, aber bei Lichte besehen ist das nur die halbe Wahrheit: Einen Politiker, der die Marktplätze der Republik mit seiner Leidenschaft für einen „weiter geschnallten Gürtel“ erobert hätte, hat es noch nicht gegeben.

Helmut Kohl der Leibliche etwa, ausgerechnet, hat die Bundestagswahl 1983 gewonnen, weil er den Deutschen wortwörtlich abverlangte, den Gürtel enger zu schnallen. Sein Nachfolger Gerhard Schröder ist Legende, seit er im März 2003 sagte: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen.“ Angela Merkel verwies im April 2008 mit Blick auf den Schuldendienst der öffentlichen Hand auf die „Lebensweisheit“ der „schwäbischen Hausfrau“: Man könne „nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben“. Und Finanzminister Olaf Scholz, der vielleicht kassenwärtigste aller Kassenwarte, hat schon vor ein paar Wochen gewarnt: „Die fetten Jahre sind vorbei.“ Im Übrigen könne sich Deutschland die rund 300 Milliarden schweren Hilfs- und Konjunkturpakete nur „leisten“, weil es „in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet“ habe.

Der politische Sparaufruf ist auch deshalb so populär, weil er der Lebenswirklichkeit der Menschen so nahe kommt: Man legt was auf die „hohe Kante“, sorgt vor für „schlechte Zeiten“, will seinen Kindern und Enkeln bloß keine Schulden hinterlassen: Die „kommenden Generationen“ sollen nicht bezahlen müssen für die Verschwendungslust ihrer Eltern und Großeltern. Auch für US-Politiker sind steigende Staatsschulden daher „unverantwortlich“ und „unpatriotisch“ (Barack Obama), eine Versündigung an der Zukunftsfähigkeit des Landes – eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ (Hillary Clinton).

von Benedikt Becker, Malte Fischer, Daniel Goffart, Dieter Schnaas

Geht es nach Stephanie Kelton, verbirgt sich hinter diesen Phrasen nichts als Unsinn. Die US-Ökonomin, ehemals Beraterin des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, ist froh, dass die Politik die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie so entschlossen wie großzügig adressiert, dass sie nicht „in die Krise hinein spart“ – dass es nirgends auf der Welt mehr Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Politiker zu geben scheint, die in einer Rezession mit Reformappellen und Austeritätsdiskursen auffallen wollen. Nur findet Kelton, dass die Regierungen weltweit noch viel zu wenig unternähmen, weil sie immer noch meinten, mit Blick auf das Wohl der Kinder und Enkel wie eine „schwäbische Hausfrau“ agieren zu müssen – spätestens dann, wenn die Krise vorbei sein wird.

Für Kelton ist das mythisches Denken, überholt und voraufklärerisch, das ideelle Zeugnis einer wirtschaftsptolemäischen Ära, in der so unterschiedliche Figuren wie John Maynard Keynes und Milton Friedman ihren Auftritt hatten – ein Denken, das 1971, mit der Aufgabe des Systems goldgebundener Währungen, obsolet geworden sei.

von Malte Fischer, Bert Losse

In diese längst untergegangene Welt sieht Kelton nun die „Modern Monetary Theory“ (MMT) und sich selbst als Aushängeschild der immer noch recht jungen wirtschaftswissenschaftlichen Bewegung wie ein Elementarereignis einschlagen. Und es spricht für die Stabilität ihres Selbstbewusstseins, dass Kelton in ihrem soeben erschienenen Buch* mit Blick auf ihre eigenen Geistesgaben und die ihrer Mitstreiter von einer „kopernikanischen Wende“, einem Geniestreich, einer Offenbarung spricht: Es gibt kein unsolides Wirtschaften und kein Schuldenproblem, denn der Staat kann so viel Geld drucken, wie er will; er ist ein singulärer Akteur, eine Art Gott in der Welt der Wirtschaft, ein „monetärer Souverän“, der als Schöpfer der Währung, die er kraft Dekret und Autorität in Umlauf bringt, keine Geldsorgen kennt und nicht bankrottgehen kann – im Unterschied zu allen anderen Akteuren, also Banken, Unternehmen, Steuerzahlern und Konsumenten, die diese Währung bloß nutzen und deshalb tatsächlich sparen und haushalten, ständig mit Knappheiten rechnen müssen.

Das alles klingt erstens allzu verlockend – und zweitens nach einem einfachen, uralten Gedanken. Und genau so ist es auch. Allzu verlockend.

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