
WirtschaftsWoche: Griechische Regierungspolitiker treten in Europa sehr selbstbewusst auf. Finanzminister Yanis Varoufakis etwa dreht den Schuldenspieß um und behauptet: „Ihr habt uns zu viel Geld gegeben.“ Ist das nur tollkühn oder auch halbwegs zutreffend?
Joseph Vogl: Die Formulierung ist provokant, aber nicht falsch. Denn was ist passiert, seit die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds Reformbedingungen stellen? Das griechische Staatsdefizit hat sich von 110 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 175 Prozent erhöht. Die Wirtschaft ist um ein Viertel eingebrochen, die Arbeitslosigkeit hat sich auf 26 Prozent erhöht. Insofern hat Varoufakis recht: Mit der finanziellen Hilfe sind zunächst einmal die Probleme der Gläubiger und der Finanzmärkte, nicht aber die der meisten Griechen gelöst worden.

Und was das selbstbewusste Auftreten betrifft...?
Man muss verstehen, dass es sich um die erste Regierung in Griechenland handelt, die nicht in Kungelei mit dem Rest der Welt verbunden ist, die nichts mit einer verfehlten Klientelpolitik und Steuergesetzgebung und vor allem auch nichts mit den dunklen Umständen beim Eintritt Griechenlands in den Euro-Raum zu tun hat. Es ist überraschend, dass das von der Euro-Gruppe überhaupt nicht bemerkt wird. Die Griechen haben einen politischen Schnitt gemacht – aber ihre Wahl taucht in der öffentlichen Diskussion nicht als legitime Entscheidung auf. Das wirft die Frage auf, ob demokratisch legitimierte Regierungen überhaupt noch zu Interventionen in ein Finanzregime fähig sind, das auf der Bewirtschaftung von Schulden basiert. Dass die politische Agenda nicht von Wahlergebnissen vorgegeben wird, sondern von den Fälligkeitsterminen der Finanzindustrie, demonstriert, wie souveräne Macht heute organisiert ist.
Zur Person
Vogl, 57, lehrt Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Uni. Nach dem Bestseller „Das Gespenst des Kapitals“ (2011) erscheint nun „Der Souveränitätseffekt“ über den Aufstieg des Finanzregimes zur vierten Gewalt.
Wie ist sie denn organisiert?
Die sogenannte Troika ist das beste Beispiel dafür, dass wir es nicht nur mit Staatsregierungen, sondern vor allem mit Regierungsinstanzen zu tun haben, die sich aus den Institutionen der internationalen Finanzverwaltung rekrutieren. Sie agieren als eine Art moderner Wohlfahrtsausschuss und zeichnen sich durch zwei Dinge aus. Erstens durch informelle Entscheidungsprozesse, die über „Memoranden“ vermittelt werden. Und zweitens durch eine Pseudolegitimität, die in letzter Instanz durch die Gläubiger, also die Finanzmärkte hergestellt wird.
Und – was folgt daraus?
Daraus folgt, dass jeder politische Entscheidungsträger heute zwei Gruppen gegenüber verantwortlich ist. Da ist zum einen das Wahl- und Stimmpublikum. Und da ist zum anderen das Finanzpublikum, das über die „Stimmung“ der Märkte Entscheidungen diktiert. Kurz, wir sind Zeuge eines Konflikts zwischen Rudimenten staatlicher Souveränität, die immer noch irgendwie demokratisch legitimiert ist, und souveränen Instanzen, in denen sich die Investorenkollektive verkörpern. Das ist der neue Klassenkampf.
Sie meinen, das Konzept der „Volkssouveränität“ ist von der Realität überholt worden?
Nicht nur das. Es geht heute darum, dass demokratisch legitimierte Instanzen selbst einem Illegitimitätsverdacht ausgesetzt werden: Das griechische Volk verhält sich sozusagen illegitim gegenüber dem Rest der EU-Gruppe und gegenüber den Gläubigern – das ist die Lage.
Was sind die Gründe für diese Legitimitätsverschiebung? Wer treibt den Souveränitätsverlust demokratischer Staaten voran?
Die politische Theorie spricht etwa von „neuer Souveränität“ oder „vagabundierender Souveränität“. Genauer noch hat man es mit einem Prozess zu tun, in dem nicht eine bestimmte Instanz an die Stelle der alten Volkssouveränitäten tritt, sondern souveräne Entscheidungskompetenzen schrittweise abwandern. In Griechenland ist dieser Prozess auf die aktuelle Spitze getrieben: Hier ist der traditionelle Kern von Souveränität, Budget- und Steuerrecht, zur Troika abgewandert.