Tauchsieder

Großer Denker, großes Werk

Seite 3/3

Über den „sozialen Mahlstrom“ des Kapitalismus

Besonders eindrücklich gelingt Polanyi die Dekonstruktion einer anderen liberalen Fiktion: die Fiktion vom „Staat“, der den „Markt“ an der Entfaltung seiner segenbringenden Kräfte hindert (Hayek). Polanyi zeigt, dass die Befreiung des Marktes von Anfang als „Doppelbewegung“  stattgefunden hat (ein weiterer zentraler Begriff seines Werkes): als (staatliche) Entbindung der Marktgesellschaft und ihre gleichzeitige Regulierung. Dass dieser Befund für jeden Historiker und Soziologen trivial ist, kann man Polanyi nicht vorwerfen; er ist zu Recht der Auffassung, der klassischen Nationalökonomie auch noch das Allerersichtlichste vor Augen führen zu müssen: Die Entstehung des Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert war im Wesentlichen eine Folge von Staatseingriffen, die die Protektion der (heimischen) Industrien zum Ziel hatten und den „Wohlstand der Nationen“ bürokratisch stützten. Die Ausbreitung des Kapitalismus und seine staatlich-institutionelle Absicherung, weist Polanyi nach, waren zwei Vektoren der gleichen Bewegung. Der Markt und der (Rechts)-Staat wuchsen, nicht zuletzt zur Durchsetzung von property rights, einträchtig, Hand in Hand. 

Die politischen und ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts deutet Polanyi anschließend als Erscheinungsformen dieser Doppelbewegung: „Während man im 19. Jahrhundert glaubte, ein liberales Utopia zu errichten, übertrug man in Wirklichkeit die Dinge einer bestimmten Anzahl konkreter Institutionen, deren Mechanismus das Tagesgeschehen beherrschte“: der liberale Staat, das internationale Kräftegleichgewicht, der Goldstandard. Es waren Institutionen und Mechanismen, die das Funktionieren der westlichen Marktgesellschaften sicherstellten – und die 1929/45, nach der „Entbettung“ des Marktes aus seinen sozialen Kontexten, ihren Dienst quittierten. Die Folgen sind bekannt. Und die Schlussfolgerung ist für Polanyi klar: „Wenn wir den deutschen Faschismus verstehen wollen, müssen wir uns dem England (David) Ricardos zuwenden.“

Die Kritik hat Polanyi gern auf kaltem Wege erledigt: Seine historische Analyse, so heißt es immer wieder, sei ihrerseits unhistorisch und romantisch noch dazu: Als stellten alle früheren Kulturen und primitiven Gesellschaften, deren Erforschung Polanyi in den Fünfzigerjahren im Anschluss an Marcel Mauss viel Zeit widmete, allein auf Geschenk und Gabe, auf einfache Bedürfnisbefriedigung, Altruismus und funktionierende Sozialbeziehungen ab – welch ein Unsinn! Man kann Polanyi diesen Vorwurf nicht ersparen. Nur reicht sie zu seiner Disqualifikation nicht hin.

Dass frühere Formen des Tauschhandels deutlich fester in das Sozialgefüge einer Gesellschaft eingebettet waren und dass der Siegeszug der Marktgesellschaft mit ihrem Gewinnstreben und ihrer auf die Kunstfigur des homo oeconomicus abgerichteten Logik das interpersonale Beziehungsnetz durchlöchert hat, wird nicht mal von liberalen Denkern bestritten. Alexis de Toqueville, John Staurt Mill, Joseph Schumpeter, Ralf Dahrendorf – sie alle waren sich mit Polanyi einig, dass der Kapitalismus von (religiösen, moralischen, kulturellen) Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Mit „Einbettung“ hat Polanyi diesen Gedanken – heute aktueller denn je – auf einen einprägsamen Begriff gebracht.

Doch Metaphern sind nicht alles, was von Polanyi bleibt. Seine „Great Transformation“ war, ist und bleibt ein Stachel im Fleisch der Nationalökonomie – solange, bis sie endlich wieder anfängt, sich im Sinne eines Max Weber oder Joseph Schumpeter als moral science zu verstehen. Das aber würde bedeuten, dass sie ihrem methodologischen Individualismus abschwört und Menschen nicht mehr wahlweise wie Rationalitätsmonster (klassische Theorie) oder Reizreaktionsmaschinen (Behaviorismus) behandelt. Dass sie als Selbstverständlichkeit annimmt, dass auch nach der „Entbettung“ des Marktes alles menschliche Denken und Tun in eine „kulturell geformte Vorstellungswelt“, in ein „gesellschaftlich produziertes Bewusstsein“ eingebettet, mithin kulturell geprägt und prägend sind.

Natürlich machen Trivialliberale auch das Polanyi sofort zum Vorwurf: Wer so denke, räume der Freiheit des Individuums einen zu geringen Stellenwert ein. Er selbst würde diesen Vorwurf brüsk zurückweisen – und ein Band mit 20 Essays (in Englisch) erhellt, dass die so genannten Liberalen gut beraten wären, nicht das Freiheitsverständnis von Polanyi, sondern ihr eigenes einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Denn „the recognition of the inescapable nature of society“ meint für Polanyi keineswegs, dass die Sache der individuellen Freiheit verloren sei, sondern im Gegenteil: dass sie sich in der Anerkennung und Auseinandersetzung mit einer „komplexen Gesellschaft“ überhaupt erst herausbilde: „There is no means for the individual to escape the responsibilities of chooosing between alternatives“, so Polanyi in einem Aufsatz aus dem Jahre 1938, und: „He or she cannot contract out of society. But the freedom we appear to lose through this knowledge is illusory, while the freedom we gain through it is valid.“

Anders gesagt: Der „soziale Mahlstrom“ des Kapitalismus, in Gang gesetzt und auf Touren gekommen durch Technologie, wirtschaftliche Organisation und Wissenschaft, ist von einer systemischen Evidenz, die heute, allen Reichtumsfolgen zum Trotz, unleugbarer denn je ist – und gegen die Polanyi, ganz im Sinne amerikanischer Pragmatiker wie George Herbert Mead, das Prinzip der individuellen Freiheit behauptet: Eine andere Welt ist möglich. Polanyi lehnte, der christlichen Soziallehre verpflichtet, das zwecklose Fortschrittspathos der Liberalen genauso ab wie den Geschichtsdeterminismus der Marxisten. Wahrscheinlich war er in Nachkriegsdeutschland so lange vergessen, weil man ihn als Vertreter eines „Dritten Weges“ in den Jahrzehnten der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht wirklich brauchte: Kongruenzen zwischen dem Denken von Karl Polanyi und Wilhelm Röpke jedenfalls sind nicht nur in Ansätzen erkennbar.

Zum Beispiel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1958, in dem Polanyi sich fragt, zu welchem Ende der Westen der Welt den zivilisatorischen Fortschritt geschenkt habe – zu welchem Ende und mit welchen Folgen. Es ist ein Satz, der einem angesichts der Herausforderungen des liberalen Westens durch Autokraten, Rechtskonservative und religiöse Eiferer förmlich in die Glieder fährt, ein Satz, der sich sofort ins Gedächtnis gräbt, den man nie mehr loswird, der einem schier den Atem raubt – und dieser Satz geht so: „That cultural entity, the West, of which the thinkers and writers were the traditional vehicles, is no longer listened to; not on account of a hostile public, as we persuade ourselves to believe, but because it has nothing relevant to say.“ 

Karl Polanyi, The Great Transformation (1944), Suhrkamp 1973, 18 Euro

Karl Polanyi, For a New West, Essays 1918 - 1959, Polity Press (in Englisch) 2014, 24,51 Euro

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