Türkei Die Neuwahl in Istanbul ist ein Wirtschaftsrisiko

Proteste auf den Straßen von Istanbul Quelle: imago images

Mit der Entscheidung, die Bürgermeister-Wahl in Istanbul zu wiederholen, riskiert die AKP, die Rezession weiter zu verschärfen.

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Schlaf war in den vergangenen Nächten in Istanbul nicht immer leicht zu bekommen. Zumindest, wenn man in den Vierteln Besiktas oder Kadikoy lebt. Diese nämlich sind traditionell Hochburgen der CHP, der größten Oppositionspartei der Türkei. Um gegen die Annullierung der Wahl von Ekrem Imamoglu zum Bürgermeister der 16-Millionen-Metropole zu demonstrieren, gingen Hunderte Menschen auf die Straße und schlugen mit Kochlöffeln auf Pfannen und Töpfe ein – eine spätestens seit den Gezi-Protesten 2013 traditionelle Form, gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren.

Der Protest der Finanzmärkte dagegen war still. Nur wenige Minuten, nachdem die Oberste Wahlkommission am Montagabend ihre Entscheidung verkündete, rasselte die türkische Lira um fünf Prozent nach unten. Für einen Euro bekam man am Dienstag 6,90 Lira. Damit ist die Währung nicht mehr weit von den Tiefstständen vom vergangenen Sommer entfernt.

Für den Wirtschaftsstandort bedeutet die Entscheidung, die Wahl zum Bürgermeisteramt vom 31. März zu annullieren, nichts Gutes. Zunächst dürfte nach der Entscheidung auch den optimistischeren Unternehmen klar werden: Der Deckmantel der türkischen Demokratie ist hauchdünn. Gewählt wird so lange, bis Erdogan gewinnt. Im Falle Istanbuls geht es nicht nur um den erlittenen Gesichtsverlust (Erdogan selbst begann seine politische Karriere als Bürgermeister der Stadt). Es geht auch um millionenschwere Aufträge der Stadtverwaltung an AKP-nahe Unternehmen, und um öffentliche Gelder die an AKP-nahe Stiftungen flossen (denen Erdogans Sohn und Frau vorstehen). Möglich, dass es auch um Korruption und Vetternwirtschaft dreht. In den vergangenen Wochen hatten sich die Gerüchte gehäuft, wonach nachts Lkw Dokumente aus den Gebäuden der Stadtverwaltung brächten.

Unternehmer aber brauchen Rechtssicherheit und Stabilität. Die Vorgänge der vergangenen Wochen zeigen, dass beides nicht gewährleistet ist. Der türkische Unternehmerverband TÜSIAD – traditionell der Opposition nahe stehend – kritisierte die Entscheidung der Wahlkommission. In einer Zeit, in der sich das Land auf demokratische und wirtschaftliche Reformen konzentrieren sollte, trügen Neuwahlen nicht zur Stabilität bei. Erdogan reagierte scharf auf die Kritik: „Geschäftsleute sollten ihren Platz kennen“, sagte er. Yiğıt Bulut, ein Berater des Präsidenten, ging weiter und sprach in einer regierungsnahen Zeitung von einer Verschwörung der Wirtschaft gegen Erdogan.

Sorgen bereitet auch der Blick auf die Finanzmärkte: Die Lage aller Schwellenländer ist ohnehin angespannt. Der Handelskrieg zwischen USA und China sowie ein starker Dollar belasten nicht nur die türkische Lira, sondern ebenso den argentinischen Peso und andere Schwellenländer-Währungen. Aufgrund der politischen Situation aber steht die türkische Lira quasi unter besonderer Beobachtung. Hinzu kommt der schwelende Streit mit den USA um den Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Für den Fall, dass das Geschäft tatsächlich durchgeführt werden sollte, hat Washington Sanktionen angekündigt.

Durch die Wiederholung der Wahl werden die Ausgaben der Regierung hoch bleiben, um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Gleichzeitig fallen die Devisenreserven der türkischen Zentralbank, mit denen in den vergangenen Monaten die Banken und damit die Lira gestützt wurden. Viel Pulver also hat Ankara nicht mehr, um bei einem erneuten Absturz der Lira zu reagieren.

Eine weiter fallende Lira aber ist Gift für die ohnehin schon arg gebeutelte türkische Wirtschaft. Da türkische Unternehmen mit rund 400 Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet sind, führt jede Abwertung der Währung zu einem höheren Schuldendienst. Im vergangenen Sommer mussten deswegen hunderte Unternehmen Insolvenz anmelden. Nur schwer konnte die Lira damals stabilisiert werden. In der Folge aber stieg die Inflation auf 19 Prozent, die Arbeitslosigkeit auf 13 Prozent. Ein erneuter Schock dürfte die türkische Wirtschaft wesentlich härter treffen.

Es sieht also nicht danach aus, dass die Türkei in den kommenden Monaten eine stabile Zeit erleben wird. Fraglich ist zudem, wie die AKP die Neuwahlen in Istanbul für sich entscheiden will. Am wahrscheinlichsten ist es, dass versucht werden wird, die kurdischen Wähler, die bei der letzten Wahl den CHP-Kandidaten unterstützt haben, von ihrem Partner zu entfremden. Dafür spricht, dass sich erstmals seit acht Jahren am vergangenen Montag der inhaftierte Kurdenführer Öcalan zu Wort meldete. Sollte die kurdische HDP ihn dieses Mal aufstellen, könnte dies die CHP wertvolle Stimmen kosten.

Wiederholt werden soll die Wahl nun am 23. Juni. Auch der gewählte Zeitpunkt dürfte wohl kalkuliert sein. Es ist traditionell Ferienzeit in der Türkei. Viele Istanbuler entfliehen dem Moloch an die Ägäis-Küste – zumindest, wer sich das noch leisten kann. Zurück in der Stadt bleiben die ärmeren Zuwanderer aus Anatolien, das traditionelle Stammwählerklientel der AKP. Möglich also, dass die AKP darauf spekuliert, dass viele CHP-Wähler nicht zur Stimmabgabe erscheinen. Immerhin: Am Dienstag haben die Fluggesellschaften Atlas und Pegasus bekannt gegeben, gebuchte Flugtickets zurückzuerstatten.

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