Der Ausverkauf an den internationalen Aktienmärkten, ein dramatischer Kursverfall bei den Bank-Titeln, der Absturz des Ölpreises, Sorgen um China und um das Wachstum in den USA: 2016 hat für viele Anleger wahrlich grausam begonnen, die Märkte sind verunsichert und nervös.
Mit dem bevorstehenden EU-Gipfel am 18./19. Februar rücken nun auch verstärkt politische Risiken in den Fokus der Anleger. Einigen sich die 28 EU-Mitglieder dann nämlich auf Zugeständnisse für die Briten und gelingt es ein Reformpaket für das künftige Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union zu schnüren, wird der britische Premier David Cameron wohl sehr schnell verkünden, dass er die Volksabstimmung über EU-Verbleib oder Abschied seines Heimatlandes noch in diesem Sommer anberaumen will. Als wahrscheinlichster Termin gilt Beobachtern der 23. Juni.
In weniger als sechs Monaten stünde dann die große Entscheidung über die Zukunft des Vereinigten Königreichs in Europa an, die auch für die restliche EU erhebliche Konsequenzen haben dürfte. Das Risiko eines Austritts rückt also in greifbare Nähe, weswegen sich nun auch die Experten von Banken, Fonds und Versicherungen verstärkt mit der Frage beschäftigen, welche Folgen ein Austritt der Briten haben könnte und wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist.
Aus den Research-Abteilungen der Investmentbanken und Fonds ergießt sich deshalb ein Strom von Analysen, Einschätzungen und mehr oder weniger gut informierten Kommentaren auf die Anleger. So erwartet etwa der Kreditversicherer Euler Hermes im Falle des Brexit, „bis zu 30 Milliarden Pfund direkte Exportverluste, sinkende Umsätze, fallende Margen aufgrund höherer Finanzierungskosten und einen Abfluss von Investitionsgeldern in Höhe von bis zu 210 Milliarden Pfund“. Großbritannien bräuchte mindestens zehn Jahre, um die durch einen möglichen EU-Austritt entstehende Lücke bei den Exporten zu schließen – selbst wenn ein Teil durch den Handel mit den Commonwealth Staaten kompensiert werden könnte, so Hermes Euler.
Um es vorwegzunehmen: bisher herrscht bei den Geldhäusern Konsens, dass der Brexit zwar eine Gefahr, aber letztlich dennoch unwahrscheinlich ist – eine Einschätzung, die sich einerseits zwar wegen des hohen Anteils der unentschlossenen Wähler gut begründen lässt aber dennoch einige potentielle Schwachstellen aufweist: denn die Meinungsumfragen erwiesen sich schließlich im Vorfeld der letzten Wahlen als völlig falsch, der Sieg der Konservativen kam für alle als große Überraschung.
Außerdem ist die Sicht der City-Experten sehr stark von ihrem eigenen Umfeld geprägt: die globale, weltoffene Metropole London aber ist nicht repräsentativ für das restliche Großbritannien, in dem die Mehrheit der Wähler lebt. Die britische Professorin Noreena Hertz vom University College London, die am 11. Februar als Gastrednerin bei einem großen Kundenevent der UBS auftrat, warnt denn auch, sie sehe die Wahrscheinlichkeit für ein Brexit-Votum bei knapp 50 Prozent.
Im Gegensatz dazu geht Bill O`Neill, der das Investment Office der Bank in Großbritannien leitet, von einem deutlich geringeren Brexit-Risiko aus: er schätzt es maximal auf 30 Prozent. Bei der UBS ist man der Ansicht, dass die Auswirkung eines möglichen Rücktritts von Angela Merkel auf die Finanzmärkte gravierender wäre als ein Votum für den Brexit. Denn Merkel gilt den UBS-Strategen gemeinsam mit EZB-Chef Mario Draghi als Garant für die Stabilität der Eurozone und Europas, weswegen ihr Verbleib im Amt besonders wichtiger ist, argumentiert O`Neill. Das größte Risiko für die internationalen Finanzmärkte stellt nach Ansicht des Experten jedoch die US-Konjunktur dar.
An den Devisenmärkten allerding hat die wachsende Ungewissheit über die Brexit-Frage schon tiefe Spuren hinterlassen: das Pfund schwächelt – es hat vor allem gegenüber dem Dollar, aber auch gegenüber dem Euro deutlich an Wert verloren. Seit Dezember hat das Pfund gegenüber dem Euro rund 6,5 Prozent eingebüßt. Ein Brexit-Votum könnte den Verfall beschleunigen: die britische Großbank HSBC erwartet in diesem Fall eine weitere Abwertung gegenüber dem Dollar von 15 bis 20 Prozent, ebenso argumentiert Goldman Sachs; die UBS prognostiziert gegenüber Dollar und Euro jeweils minus 10 Prozent.
Im Gegensatz dazu glauben die Experten der Barclays Bank, ein Brexit-Votum könnte eine Erholung der britischen Währung einleiten. Denn ein Austritt wäre weniger schädlich für Großbritannien selbst als für die politischen Gremien und Organisationen im restlichen Europa: „…es hätte signifikante Risiken für die EU und für die Stabilität der Eurozone“, so Marvin Barth, ein Barclays-Währungsexperte.
Fest steht dennoch, angesichts der aktuellen Volatilität an den Märkten ist das EU-Referendum alles als hilfreich.
Fazit der US-Bank Goldman Sachs: „Das britische EU-Referendum zählt kurzfristig zu den größten politischen Ungewissheiten der Welt“.