US-Konjunktur Joe Bidens Produktivitätsproblem

US-Präsident Joe Biden wettet ganz offensichtlich auf einen schnellen Produktivitätszuwachs. Quelle: AP

Um eine Überhitzung der Volkswirtschaft und steigende Inflation zu vermeiden, brauchen die USA einen rasanten und schnellen Produktivitätszuwachs. Das ist ein ökonomisches Risiko für Joe Biden, warnt der US-Ökonom Barry Eichengreen in einem Gastbeitrag für die WirtschaftsWoche.

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Barry Eichengreen ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der University of California in Berkeley.

Produktivität kann alles verändern. In hoch entwickelten Volkswirtschaften, in denen die Erwerbsbevölkerung nur langsam wächst, sorgen Produktivitätszuwächse in der Regel für einen Großteil des Wirtschaftswachstums. Die Steigerung der Produktivität ist folglich der direkteste Weg, um die Wirtschaftsleistung eines Landes zu erhöhen. Würde etwa die jährliche totale Faktorproduktivität in den Vereinigten Staaten von den 0,5 Prozent der vergangenen fünf Jahre vor der Coronapandemie auf zwei Prozent steigen, würde sich die vom Internationalen Währungsfonds für 2023 bis 2026 prognostizierte Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,5 auf drei Prozent verdoppeln.

Derart schnelle Produktivitätszuwächse gab es schon einmal. Sie entsprechen fast genau dem Produktivitätssprung US-amerikanischer Unternehmen zwischen 1996 und 2004 den Jahren der so genannten New Economy, als sich im Handel und in der Finanzbranche innovative digitale Prozesse durchsetzen.

Würde die Produktivität wieder so schnell wachsen, hätte das viele Vorteile. Die Einkommen würden sich statt in zwei Generationen schon in einer Generation verdoppeln. Regierungen hätten mehr Einnahmen und ein kleineres Haushaltsdefizit. Das Problem ist nur, dass wir den Produktivitätssprung der New Economy-Ära seitdem nie wieder erreicht haben.

Wird die Coronakrise das nun ändern? Optimisten wie McKinsey & Company sehen die zunehmende Arbeit im Homeoffice als Indiz, dass die Unternehmen ihre Betriebsabläufe effizienter organisieren. In der Fleischindustrie und anderen Branchen, die sich lange gegen die Mechanisierung gewehrt haben, gibt es neue Anläufe zur Automatisierung. Außerdem hat die Pandemie die Verlagerung des Einzelhandels ins Internet und den Aufstieg der Telemedizin beschleunigt und sogar meinen eigenen engstirnigen Sektor, das Bildungswesen, dazu gebracht, sich neuen Technologien zu öffnen. Dies alles lässt auf mehr Effizienz hoffen.

Andere Trends sind jedoch weniger vielversprechend. Investitionen in digitale Technologien gibt es vor allem in großen Konzernen. Kleine Unternehmen verlieren den Anschluss. Eine stärkere Dominanz großer Unternehmen aber bedeutet weniger Wettbewerb und weniger Druck auf die Marktführer zu weiteren Innovationen.

Da eine Herdenimmunität gegen COVID-19 immer unwahrscheinlicher wird, müssen Unternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe dauerhaft mit höheren Kosten rechnen. Falls die Restaurants in Ihrer Stadt wieder geöffnet haben, werden Sie bemerkt haben, dass die Tische weiter auseinander stehen und weniger Gäste bedient werden. Die Miete bleibt jedoch gleich.

Der wissenschaftliche Fortschritt, dessen Sinnbild die schnelle Entwicklung der mRNA-Impfstoffe gegen COVID-19 ist, der sich aber auch in der Humangenetik, Nanotechnologien oder künstlicher Intelligenz zeigt, ist der wichtigste Grund für Optimismus. Der wichtigste Grund für Pessimismus ist zugleich die Tatsache, dass diese Fortschritte sich sehr wahrscheinlich erst in vielen Jahren in der Produktivitätsstatistik niederschlagen werden.

Betrachten wir die Nachwirkungen der letzten Pandemie, der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920. Kurz vorher war der Verbrennungsmotor perfektioniert worden. Henry Ford hatte das Fließband entwickelt. Die Radio Corporation of America, das führende Hightech-Unternehmen seiner Zeit, konnte Radios verkaufen, die auch weit entfernte Signale empfingen.

Unternehmen nutzten den Stillstand während der Weltwirtschaftskrise zum Umbau ihrer Produktion, und die, die das am wenigsten konnten, schieden aus dem Markt aus. Regierungen investierten in Straßen, wodurch die gerade entstehende Lkw-Branche den Vertrieb wesentlich produktiver machen konnte. Aber obwohl der Produktivitätszuwachs sich schon in den 1920er-Jahren leicht beschleunigte, schlugen die Fortschritte erst in den 1930ern voll durch.



Aus dieser langen Verzögerung lassen sich zwei wichtige Lehren ziehen. Erstens wird der Produktivitätszuwachs vermutlich mit einer gewissen Verspätung anziehen und Haushaltspolitiker und Zentralbanken sollten entsprechend planen. Zweitens können Regierungen selbst etwas dafür tun, dass die Beschleunigung nicht ganz so lange auf sich warten lässt. In den 1930er-Jahren waren das Investitionen in Straßen und Brücken als Voraussetzung für den Lkw-Verkehr. Heute sind es Investitionen in Breitband, damit die Effizienzgewinne der Digitalisierung der gesamten Wirtschaft zufließen.

US-Präsident Joe Biden wettet ganz offensichtlich auf einen schnellen Produktivitätszuwachs. Nur so lassen sich die zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 4,1 Billionen US-Dollar für seinen „American Jobs Plan“ und „American Families Plan“ mit der Wirtschaftsleistung in Einklang bringen. Ein rasanter Produktivitätszuwachs ist das einzig vernünftige Argument, mit dem sich Sorgen vor einer wirtschaftlichen Überhitzung und Inflation von der Hand weisen lassen.

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Eine Kürzung der Infrastrukturausgaben wäre kontraproduktiv, weil sie kurzfristig die Chancen auf schnelle Produktivitätszuwächse beschädigen würde; gleiches gilt für Investitionen in die frühkindliche Bildung, die wir langfristig für eine höhere Produktivität brauchen. Je größer jedoch das Risiko wird, dass der Produktivitätszuwachs erst verzögert einsetzt, umso wichtiger wäre es, Bidens Konjunkturpläne durch Steuern gegenzufinanzieren¬, um ein Überhitzen der Wirtschaft zu verhindern.
Copyright: Project Syndicate, 2021.

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