Verbraucherpreise Die EZB untertreibt die Inflationsgefahren

Seit Jahren pumpt die Europäische Zentralbank Geld in die Wirtschaft. Für die rasant steigenden Inflationsraten macht sie die Pandemie und statistische Sondereffekte verantwortlich. Höhere Leitzinsen, die die Geldflut stoppen könnten, lehnt sie ab.    Quelle: dpa

Die Inflation knackt immer neue Rekorde. Dennoch macht die EZB keine Anstalten, die Leitzinsen zu erhöhen. Sie hofft, dass die Teuerungsraten bald wieder sinken. Wie realistisch ist das? Ein Kommentar.

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Dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes wird das berühmte Bonmot zugeschrieben: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung.“ In diesen Tagen und Wochen scheint der Geist von Keynes die Flure der Europäischen Zentralbank (EZB) zu durchwehen. Wie sonst soll man sich erklären, dass gleich mehrere Notenbanker der Frankfurter Behörde beginnen, mit ihren Einschätzungen zur Entwicklung der Inflation zurückzurudern?

Beispiel Isabel Schnabel: Die deutsche EZB-Direktorin hatte deutschen Medien noch im September vorgeworfen, sie verstärkten mit ihren Warnungen vor steigenden Inflationsraten die „Ängste der Menschen ohne jede Erklärung“. Dabei gebe es „nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die aktuelle Geldpolitik zu permanent höherer Inflation oberhalb von zwei Prozent führen wird“, so Schnabel. 

In der vergangenen Woche dann der Turnaround. Es sei zwar plausibel anzunehmen, dass die Inflation mittelfristig wieder unter das Ziel von zwei Prozent falle, sagte Schnabel in einem Interview. Doch habe „die Unsicherheit über Tempo und Ausmaß des Rückgangs zugenommen“. Die EZB müsse „diese erhöhte Unsicherheit berücksichtigen“, zumal die Risiken für die Inflation „eher nach oben gerichtet“ seien. 

Inflation über fünf Prozent 

Wenige Tage später konzedierte auch Christine Lagarde, Chefin der EZB, die Notenbanker hätten ihre Inflationsprognosen in den vergangenen Quartalen „nach und nach anpassen müssen“. Der Grund: Die Teuerungsrate in der Eurozone hat die Erwartungen der EZB-Ökonomen immer wieder übertroffen. Lag die Teuerungsrate im vergangenen Oktober noch bei minus 0,3 Prozent, so ist sie mittlerweile auf 4,1 Prozent in die Höhe geschossen. 

In Deutschland sprang die Inflationsrate im November nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes sogar auf 5,2 Prozent, den höchsten Stand seit Anfang der 1990er-Jahre. Im November 2020 waren die Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich noch um 0,3 Prozent gesunken. Gemessen an dem harmonisierten Verbraucherpreisindex lag die Inflationsrate hierzulande sogar bei 6,0 Prozent. Vor allem die Hausse bei den Energiepreisen hat die Kosten für die Lebenshaltung nach oben getrieben. 

So verteuerte sich die Einfuhr von Energie im Oktober um 141 Prozent, die von Erdgas gar um 194 Prozent. Für andere Importgüter wie Rohkaffee, Getreide, Holz und Metalle mussten die Deutschen ebenfalls deutlich mehr auf den Tisch legen, die Preise stiegen um 30 bis 60 Prozent. Insgesamt verteuerten sich die Einfuhren um 21,7 Prozent, so stark wie zuletzt 1980 im Rahmen der zweiten Ölpreiskrise. 

Nur kurze Entspannung bei den Teuerungsraten 

Dennoch machen die Notenbanker der EZB keine Anstalten, die ultralockere Geldpolitik zu beenden. Lagarde und Co setzen vielmehr darauf, dass die Teuerungsraten bald wieder sinken, dass es sich also nur um einen Inflationsbuckel handelt. Kurzfristig dürften sie damit sogar richtig liegen. 

Denn Anfang nächsten Jahres jährt sich die Anhebung der Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland. Für den Vorjahresvergleich spielt sie dann keine Rolle mehr. Das drückt die Teuerungsrate. Auch bei den Energiepreise kommt es zu Basiseffekten. Bleiben die Preise für Öl, Gas und Kohle stabil, drückt dies die Inflation nach unten.

Dank der Basiseffekte könnte die Inflation im nächsten Jahres also tatsächlich wieder Richtung des EZB-Inflationsziels von zwei Prozent sinken. Die Notenbanker dürften dies zum Anlass nehmen, um an ihrer expansiven Geldpolitik festzuhalten. Zumal sich angesichts der vierten Coronawelle die Aussichten für die Konjunktur eingetrübt haben. Eine geldpolitische Straffung zum jetzigen Zeitpunkt sei falsch, erklärte Lagarde jüngst. Denn sie wirke erst, wenn die Inflation bereits wieder gesunken sei und verursache dadurch „Arbeitslosigkeit und hohe Anpassungskosten“.

Monetärer Überhang treibt die Preise 

Mit ihrer Fixierung auf die kurze Frist und dem Verweis auf Basiseffekte verstellt die EZB jedoch den Blick auf die langfristigen Risiken, die sich aus der superexpansiven Geldpolitik ergeben. Hält die EZB die Zinsen niedrig, steigen die Anreize für die Regierungen, sich weiter zu verschulden. Die Diskussion in der EU um die Aufweichung oder gar Abschaffung des Stabilitätspaktes und der Obergrenze für die Staatsschulden, zeigt wohin der Zug fährt. 

Faktisch hat sich die EZB längst ihrer Unabhängigkeit beraubt, indem sie sich durch den ordnungspolitisch enthemmten Ankauf von Staatsanleihen in die fiskalische Dominanz durch die Finanzminister begeben hat. Die Regierungen der hochverschuldeten Euroländer und ihre Emissäre im EZB-Rat bestimmen seit Jahren den geldpolitischen Kurs in Frankfurt. Dieser ist darauf ausgelegt, die Finanzierungskosten der Staaten niedrig zu halten – koste es was es wolle. 

Dadurch gerät immer mehr Geld in Umlauf. Seit Beginn der Pandemie ist die Euro-Geldmenge M3 (Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen sowie kurzfristige Bankschuldverschreibungen und Geldmarktfonds) um etwa 18 Prozent gestiegen. Die nominale Wirtschaftsleistung blieb in dieser Zeit hingegen nahezu unverändert. Der monetäre Überhang wird sich in weiter steigenden Güter- und Vermögenspreisen entladen. 

Stabilisierungsrezession oder Geldkrise 

Auch von den Lohnkosten geht zunehmend Druck auf die Preise aus.  Die Alterung der Gesellschaft verknappt und verteuert die Arbeitskräfte. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale wächst. Lagarde weiß das, glaubt jedoch, die Geldpolitik habe „genügend Zeit, um auf solche längerfristigen Trends angemessen zu reagieren“. Die fiskalische Dominanz, in der sich die EZB befindet, lassen an dieser Sicht der Dinge jedoch große Zweifel aufkommen. 

Die Umbrüche in der Weltwirtschaft deuten ebenfalls auf steigende Preise. Die Abkoppelung Chinas vom Westen und das Interesse der Unternehmen an einer besseren Kontrolle ihre Lieferketten im Gefolge der Pandemie dürften dazu führen, dass Produktion und Beschäftigung vermehrt nach Europa verlagert werden. Das wird die Produktionskosten ebenso treiben wie der Klimaschutz, durch den fossile Energieträger teurer werden. 

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Der Rückgang der Inflationsraten, auf den die EZB setzt, dürfte vor diesem Hintergrund ein kurzes Intermezzo bleiben. Der Trend für die Preise ist nach oben gerichtet. Er wird umso steiler ausfallen, je länger die EZB den Tritt auf die geldpolitische Bremse hinauszögert. Am Ende bleibt ihr dann nur die Wahl: Entweder späte Vollbremsung mit einer schweren Stabilisierungsrezession, an der die Währungsunion zerbrechen könnte. Oder Inflationierung mit einer Geldkrise, die die Menschen aus dem Euro treibt.    

Mehr zum Thema: Im Kampf gegen die Inflation fordern immer mehr Politiker Preisstopps. Funktioniert aber hat das noch nie. Die Teuerung wird dadurch nur aufgestaut.

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