WirtschaftsWoche: Professor Fehr, weltweit klettern die Aktienkurse. Beobachter warnen vor neuen Blasen. Welche Rolle spielen die Notenbanken dabei?
Fehr: Man kann die Kursentwicklung fast nie auf eine einzige Ursache zurückführen. Aus Laborexperimenten wissen wir, dass Preisblasen kein monetäres Phänomen sein müssen. Blasen können auch ohne expansive Geldpolitik entstehen. So kann allein die Erwartung weiter steigender Preise die Investoren veranlassen, in den Markt einzusteigen – auch dann, wenn sie glauben, dass die Aktienkurse bereits überbewertet sind. Die treibende Kraft sind häufig Storys, die von einer neuen Ära künden wie zu Zeiten des New-Economy-Hypes am Anfang des Jahrtausends. Damals bauten sich bei Anlegern unrealistische Ertragserwartungen auf. Eine expansive Geldpolitik der Notenbank und niedrige Zinsen können solche Blasen verstärken. Aber sie sind keine notwendige Bedingung dafür.
Und was bringt die Blasen zum Platzen?
Das weiß niemand ganz genau. Da Blasen aber erwartungsgetrieben sind, lösen Zweifel über die zukünftige Preisentwicklung die Wende aus. Diese Zweifel können viele Quellen haben. Wenn etwa einige bekannte Top-Investoren vor einer Korrektur am Aktienmarkt warnen, wirkt dies als Signal. Anleger sind keine homogene Gruppe. Professionelle Investoren haben häufig Informationsvorsprünge, die sie nutzen, um frühzeitig aus dem Markt auszusteigen. Wenn ihnen die Masse folgt, kommt es zum Zusammenbruch...
Die zehn wichtigsten Aktien-Regeln
Gegen die größer werdenden Unwägbarkeiten sollte man sich zuallererst mit einer Strategie wappnen: Wer an kräftiges Wachstum in Deutschland glaubt, an einen anhaltenden Boom der Schwellenländer und hohen privaten Konsum, kann weiter am Aktienmarkt investieren. Wer skeptisch ist, sollte seine Bestände hingegen nicht aufstocken.
Eng verbunden mit der ersten Regel: Immer wieder kommt es vor, dass sich Dinge anders entwickeln, als man erwartet hat. Es ist wichtig, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und nicht jeder Entwicklung hinterherzulaufen. Eine solche Reaktion zeugt nicht von einem geringen Vertrauen in die eigene Strategie. Es kostet meist auch Geld, weil die Masse schon vorher diese Richtung eingeschlagen und das Gros an Rendite eingefahren hat.
Groß oder klein, spekulativ oder konservativ, liquide oder illiquide, dividendenstark oder dividendenschwach, Substanz oder Wachstum: Bei Aktien ist die Auswahl riesig. Der richtige Mix aus spekulativen und konservativen Titeln hilft, Schwankungen zwischen guten und schlechten Zeiten auszugleichen. Nicht zu unterschätzen sind starke Dividendenzahler, die Jahr für Jahr den Grundstock für eine solide Rendite legen.
Keine Frage, die Börsen haben in den vergangenen zehn Jahren stärker geschwankt als in allen Dekaden zuvor. Das wird so bleiben, mit wachsendem Computerhandel sogar noch zunehmen. Wer sein Risiko minimieren will, baut Barrieren ein – sogenannte Stopps. Gerne werden Stopps bei 20 Prozent über und unterhalb des aktuellen Kurses gewählt. Dann wird automatisch verkauft, wenn diese Grenzen erreicht sind. Kommt eine Phase überraschend steigender Kurse mit anhaltendem Aufwärtstrend, lässt sich die Barriere leicht nach oben verschieben. Wichtig ist dann, auch die Barriere am unteren Ende nachzuziehen.
Wichtig in Phasen überraschender Kurssteigerungen oder -stürze ist es, das Verhalten der Masse zu beobachten. Ist es noch nachvollziehbar oder völlig irrational? Häufig ist es irrational. Dann hilft meist die zweite Regel: Widerstandskraft zeigen. Nach einigen Monaten kehrt die Rationalität von ganz allein zurück. Der Kurssturz aus dem vergangenen Jahr und die jüngste Entwicklung beweisen das gerade wieder.
Sind Aktien wie seit Jahresbeginn schon um 30, 40 oder gar 50 Prozent gestiegen, dann sind Anschlussgewinne in der Regel nur noch schwer zu erzielen. Phrasenverdächtig ist zwar die alte Weisheit: „An Gewinnmitnahmen ist noch niemand zugrunde gegangen.“ Richtig ist sie trotzdem.
Firmenchefs haben einen gewaltigen Vorteil gegenüber normalen Aktionären. Sie wissen weit mehr als jeder Analyst oder Kommentator, wie es in ihrem Unternehmen aussieht. Insider nennt man sie deshalb. Sie melden ihre Orders innerhalb von fünf Handelstagen an die Börsenaufsicht Bafin. Das Handelsblatt veröffentlicht alle zwei Wochen das sogenannte Insider-Barometer, das aus der Summe aller Kauf- und Verkaufsorders Schlüsse für den weiteren Verlauf in Dax & Co. zieht. Jüngste Tendenz: Vorstände und Aufsichtsräte verkaufen mehr als sie kaufen. Vorsicht also!
Terroranschläge und Naturkatastrophen kommen unerwartet. Politische Konflikte wie aktuell zwischen Israel und dem Iran schwelen meist länger. Entscheidende Wahlen wie jüngst in Russland und in diesem Jahr noch in Frankreich und den USA sind vorhersehbar und haben immer Einfluss auf die Börse. Dabei gilt generell: Wahljahre sind gute Börsenjahre.
Mit Optionsscheinen oder Bonus-Zertifikaten lässt sich zwar aus einem Aufwärtstrend ein noch größerer Profit schlagen. Dies sind jedoch in der Regel Wetten ohne realen Hintergrund. Aktien sind reale Werte.
Vor allem Aktien einzelner Branchen unterliegen immer wieder gewissen Moden. Doch die wechseln wie im realen Leben, und manchmal geht das schneller, als man denkt. Das bekommt gerade die einst angesehene Solarenergie-Branche bitter zu spüren.
...und in der Panik bleibt die ökonomische Ratio auf der Strecke?
Herdenverhalten ist fast immer mit irrationalen Komponenten verbunden. Das heißt nicht, dass es stets unvernünftig ist. Hinter jedem Herdenverhalten steht eine gewisse Plausibilität. Ein wichtiger Punkt ist jedoch, dass die Informationen häufig nicht richtig verarbeitet werden. Es gibt eine Minderheit von rationalen Händlern und eine Mehrheit von weniger rationalen Anlegern, die unfundierte Anlagestrategien verfolgen oder sich von Gefühlen leiten lassen. Dazu kommt, dass sich beim Platzen einer Blase die Risikoaversion von Anlegern und professionellen Investoren ändert.
Zur Person
Fehr, 57, ist Professor für Mikroökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Zürich. Der Verhaltensforscher ist Mitbegründer der Neuroökonomie, die durch Analysen von Gehirnaktivitäten die Motive menschlichen Handelns untersucht. Fehr ist einer der meistzitierten Ökonomen der Welt – und gilt als Nobelpreis-Anwärter.
Was meinen Sie konkret?
Wir haben untersucht, wie sich das Anlageverhalten von professionellen Investoren unterscheidet, wenn man sie vorher an einen Boom oder an eine Krise erinnert. Wird vorher eine Krisensituation am Aktienmarkt mental hervorgehoben, investieren die Probanden deutlich weniger in risikobehaftete Wertpapiere im Vergleich zu einer Situation, bei der man sie vorher an einen Boom erinnert hat. In unserem Experiment waren aber die objektiven Erträge aus dem riskanten Wertpapier komplett identisch – also völlig unabhängig davon, woran man die Probanden erinnert hatte. Trotzdem gab es erhebliche Unterschiede im Investitionsverhalten. Solche Veränderungen in den Risikopräferenzen haben Konsequenzen. Was nach Herdenverhalten aussieht, ist oft auch das Resultat einer gestiegenen Risikoaversion.
Und im Boom läuft es umgekehrt?
Dann lässt die Risikoaversion nach. Das ist, als schütte man Öl ins Feuer. Im Abschwung wirkt die gesunkene Risikoaversion, als kippe man Wasser auf ein ausgehendes Feuer. Das erklärt die hohen Schwankungen der Aktienmärkte.
"Draghi hat es geschafft, Risikopräferenzen der Anleger zu stabilisieren"
Politiker fordern, diese Volatilität durch Regulierungen zu verringern. Macht das Sinn?
Eine Regulierung des Bankensektors in Form solider Eigenkapitalerfordernisse ist absolut notwendig. Ebenso ist es notwendig, das Schattenbankensystem stärker zu regulieren. Aber man sollte davon absehen, Mikroregulierung zu betreiben. Wenn man hinreichend hohe Eigenkapitalerfordernisse verlangt, richtet sich vieles von selbst – weil man so den Risikoappetit des Managements zügelt.
In der Euro-Krise haben die Peripherieländer Hilfen erhalten und dafür Reformauflagen erfüllen müssen. War das aus Sicht der Verhaltensforschung der richtige Anreiz?
Das lässt sich nicht so leicht sagen. Wir arbeiten mit Individualdaten, unsere Ergebnisse lassen sich nicht ohne Zusatzannahmen generalisierend auf die Ebene von Staaten übertragen. Aus Experimenten wissen wir jedoch, dass im Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen Strafandrohungen eher kontraproduktiv wirken. Sie mindern die Bereitschaft zu freiwilliger Kooperation. Dagegen erhöhen Belohnungen die Motivation.
Heißt das, wir sollten den Griechen eine Belohnung in Aussicht stellen, damit sie ihr Land reformieren?
Nicht unbedingt. Menschen sind auf freiwillige Kooperation angewiesen, auf individueller Ebene ebenso wie auf Regierungsebene. Wenn die Bereitschaft dazu nicht vorhanden ist, nutzen manchmal auch Sanktionsdrohungen und in Aussicht gestellte Belohnungen nichts. Ohne eine gewisse Kooperationsbereitschaft geht es nicht.
Bedeutet Kooperation, dass Transfers fließen müssen?
Ich kenne kein Staatengebilde, das dauerhaft ohne einen sinnvollen Finanzausgleich funktioniert hat. Der Kanton Bern erhält beispielsweise jedes Jahr mehr als eine Milliarde Franken vom Rest der Schweiz. Auch in den USA gibt es einen Finanzausgleich zwischen den Bundesstaaten. Allerdings erfolgen die Ausgleichszahlungen nach klaren Regeln. Kommt ein Staat auf Dauer mit dem Geld nicht zurande, droht der Bankrott. Das fördert das Verantwortungsbewusstsein der Regierungen in den Einzelstaaten – und hat zur Folge, dass sich die Wut der Bürger gegen die eigene Regierung richtet, wenn diese eine Finanzmisere anrichtet, nicht gegen andere Bundesstaaten. Daher sollten wir in Europa über ein ähnliches System nachdenken. Europas Problem ist, dass es uns an Herz und an Härte fehlt. Wir brauchen einen effizienten, regelbasierten Finanzausgleich, der starke Ungleichheiten zwischen den Staaten abschwächt. Aber wir brauchen auch die Härte, Länder notfalls bankrott gehen zu lassen. Sonst kann die heterogene Gemeinschaft der Euro-Staaten nicht florieren.
In der Krise hat die EZB massiv Geld in das Finanzsystem gepumpt. Das hat sie Vertrauen gekostet. Welche Folgen hat es, wenn eine so wichtige Instanz wie die Notenbank ihre Reputation verliert?
In erster Linie hat die EZB bei den Deutschen Vertrauen eingebüßt, was auch mit der historischen Inflationserfahrung Deutschlands zu tun hat. An den Finanzmärkten dagegen hat EZB-Chef Mario Draghi mit seinem Rettungsversprechen für den Euro Vertrauen geschaffen. Der Trick bestand darin, das Versprechen so glaubwürdig zu gestalten, dass es nicht eingelöst werden muss. Draghi hat es geschafft, die Erwartungen und die Risikopräferenzen der Anleger zu stabilisieren. Die EZB kann, wenn sie will, die Liquidität jederzeit wieder abschöpfen. Ohne die expansive Geldpolitik wäre die Krise vermutlich schlimmer ausgefallen.
Die US-Notenbank hat eine noch expansivere Politik verfolgt als die EZB. Heute steht Amerika wirtschaftlich besser da als Europa, obwohl die Krise von den US-Märkten ausging. Das Problem ist, dass die Notenbanken den Regierungen nur Zeit gekauft haben. Nun kommt es darauf an, dass diese den Spielraum nutzen, Strukturreformen umzusetzen.
"Verhaltensökonomie ist keine Blaupause für Interventionen"
Vertreter der traditionellen Ökonomie werfen Verhaltensforschern häufig vor, zwar auf die Unzulänglichkeiten der traditionellen Modelle hinzuweisen, aber kein neues Denkgebäude zu liefern. Was halten Sie dem entgegen?
Den Einwand lasse ich so nicht gelten. Die Verhaltensforschung hat nie danach gestrebt, das gesamte Wissen der Ökonomie über den Haufen zu werfen. Aber sie kann es sinnvoll ergänzen und, wo nötig, korrigieren.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Finanzmarktforschung. Die tradierten Modelle können die enormen Preisschwankungen auf den Märkten kaum erklären. Ähnliches gilt für die Arbeitsmärkte. Mit den Modellen der Neoklassik können sie nicht gut erklären, warum die Löhne selbst dort rigide sind, wo es keine Gewerkschaften gibt. Wir müssen uns von der Fiktion verabschieden, dass wir in einer Welt leben, die sich dank markträumender Preise ständig im Gleichgewicht befindet. Außerdem ist es unrealistisch, anzunehmen, die Konsumenten hätten stabile Präferenzen, und der Markt sei lediglich dazu da, diese zu befriedigen. Die Verhaltensforschung zeigt, dass Präferenzen instabil und manipulierbar sind, etwa durch Werbung.
Sie arbeiten eng mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen zusammen...
...was für uns sehr fruchtbar ist. An unserem Institut forschen Ökonomen, Psychologen und Neurowissenschaftler gemeinsam. Gerade die Neurowissenschaften, die Gehirnaktivitäten messen, eröffnen uns neue Perspektiven, das Entscheidungsverhalten von Menschen besser zu verstehen. Die Ergebnisse der Grundlagenforschung mögen derzeit noch abstrakt erscheinen. Doch das war bei anderen innovativen Forschungsfeldern wie der Spieltheorie am Anfang ebenso. Heute wissen wir, wie wichtig die Grundlagenforschung ist.
Ihre Erkenntnisse über irrationales Verhalten der Menschen könnte der Politik eine Steilvorlage für Interventionen in den Markt liefern. Macht Ihnen das keine Angst?
Die Verhaltensökonomie ist keine Blaupause für staatliche Interventionen. Manchmal kann es sinnvoll sein, irrationales Verhalten durch staatliche Eingriffe zu korrigieren, manchmal können das private Akteure selbst besser lösen. Irrationales Verhalten auf individueller Ebene impliziert nicht automatisch irrationales Verhalten von Märkten. Auf manchen Märkten gibt es selbstkorrigierende Prozesse, die verhindern, dass irrationales Verhalten auf individueller Ebene zu irrationalen Marktergebnissen führt.
Und die Politik?
Die Politik ist auch durch irrationales Verhalten geprägt. Daher werden die Resultate nicht automatisch besser, wenn Politiker in den Markt eingreifen. Die Einsicht in individuelle Entscheidungsschwächen der Menschen ist kein Plädoyer für mehr staatliche Regulierung. Es könnten sich ebenso gut ein privater Beratungsmarkt oder andere private Initiativen herausbilden, die den Menschen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Es muss nicht mehr Staat sein.